Verlassen von allen guten Geistern

Der Westen als Geisel der Führung in Kiew

Für einen Moment war sie wieder ganz nahe: Die Angst, dass der Krieg nach der Ukraine auch den Rest Europas verschlingen würde. Wäre es nach dem Willen von Wolodymyr Selenskyj gegangen, dann hätte der Raketeneinschlag in Przewodów im Osten Polens die Nato zur direkten Kriegspartei gemacht. Zumindest redete der ukrainische Staatschef in einer Videoansprache - offensichtlich wahrheitswidrig - von einem russischen Angriff auf Nato-Territorium und forderte das Militärbündnis zum Handeln auf. In Deutschland griffen die üblichen Verdächtigen die Informationsfetzen begierig auf. Manche Medien schienen den "Bündnisfall" geradezu herbei schreiben zu wollen. Und einmal mehr schien Europa von allen guten Geistern verlassen zu sein.

Der Ukraine-Krieg hat nicht nur mein Verhältnis zu Russland nachhaltig beschädigt Auch die Reaktionen auf das Geschehen in Westeuropa machen oft nur noch sprach- und ratlos. Das Kernproblem lässt sich recht einfach beschreiben: Nach dem russischen Überfall verdienen die Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Land zum Schlachtfeld wurde und deren Alltag sich in eine Hölle verwandelte, jedwede Unterstützung. Aber die Entscheidungsträger im Westen können oder wollen nicht verstehen, dass ein großer Unterschied besteht zwischen Solidarität mit der Ukraine und einer Blankovollmacht für die in vielerlei Hinsicht hochproblematische Kiewer Führung.

Diese bedingungslose Treue zu den Regierenden in Kiew begann bereits 2014, sie soll bis zu deren erhofftem militärischen Sieg dauern und  ist damit womöglich sogar noch fataler als die bisherigen Fehleinschätzungen zum Verlauf und den Perspektiven des Wirtschaftskriegs. Denn sie lässt die hochgefährliche Eskalation des Krieges alternativlos erscheinen. Außerdem macht sie auch eine offen rassistische Weltanschauung hoffähig, der zufolge alles zulässig ist, wenn es nur gegen "die" Russen geht. Staatlich geförderte Kampagnen gegen "Hass und Hetze" verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn Hass und Hetze in manchen Fällen eben ausdrücklich geduldet - oder gar beklatscht werden. Es gab mehrere Schlüsselmomente, an denen das mit Händen zu greifen war.

 
Los ging es im Sommer mit der Debatte um Reiseverbote für russische Staatsbürger und die hypothetische Aufnahme russischer Regimegegner und Kriegsdienstverweigerer. Nicht nur im Baltikum oder in Polen, sondern auch in Deutschland offenbarten manche Äußerungen regelechte Abgründe bei Teilen der politischen und medialen Elite. Der Berliner Tagesspiegel hatte kein Problem damit, unter der Überschrift "Ich möchte nicht mit russischen Männern in Berlin in der U-Bahn fahren" einen Artikel zu veröffentlichen (glücklicherweise hinter der Bezahlschranke), in dem die ukrainische Autorin solche absurden Sätze formuliert wie: "Die Flüchtlinge aus Russland werden uns Flüchtlinge aus der Ukraine mit Verachtung betrachten und erklären, dass sie aus ihrer Heimat fliehen mussten, weil wir uns im Krieg befinden und sie angeblich dazu berufen sind, "Ordnung" in die Ukraine zu bringen." Und in dem sie schreibt, in Berlin verlasse sie den Laden, wenn dort jemand Russisch spreche (die Muttersprache eines großen Teils ihrer geflüchteten ukrainischen Landsleute).

Friedenspreis für einen "Völkerhasser"?

Dann war da der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der diesjährige Preisträger Serhij Zhadan, selbstverständlich ein Ukrainer, wurde im Oktober in Frankfurt von den Honoratioren mit stehenden Ovationen gefeiert - trotz oder vielleicht auch wegen seiner drastisch antirussischen Texte. Verstört notierte der Journalist Franz Alt, welche Begriffe Zhadan in seinem Werk für Russen verwendet habe: Horde, Verbrecher, Tiere, Unrat. "Sind wir tatsächlich so weit gekommen, dass ein Völkerhasser den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen muss?" fragte er in einem Kommentar für Chrismon. Und weiter: "Hat uns unsere Solidarität mit dem von Putin überfallenen ukrainischen Volk moralisch blind gemacht?"

Einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass man diese Frage wohl mit Ja beantworten muss, hatten in den vergangenen Monaten sicher auch die unsozialen Netzwerke. So wurden Gewaltaufrufe im Zusammenhang mit dem russischen Angriff seit Anfang 2022 zum Teil sogar ausdrücklich zugelassen (Bericht z.B. beim KSTA). Kaum jemand hat die schrankenlosen Chancen der digitalen Welt so gut nutzen können wie der ehemalige ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk (eine Liste Aufsehen erregender Unverschämtheiten hat Telepolis zusammengestellt). Der Diplomat - mittlerweile zum Vizeaußenminister befördert - beschimpfte schon mal deutsche Politiker als "Arschloch", und drohte Kritikern mit einem Kriegsverbrechertribunal. Wie oft mir nach dem Sprengstoff-Anschlag auf die Krim-Brücke sein infantiler Tweet "Shaka laka boom boom. Die Befreiung der Krim beginn. JETZT" von Leuten in die Timeline gespült wurde, die das offenbar toll fanden, konnte ich irgendwann schon gar nicht mehr zählen. Melnyks Eskapaden gingen selbst der Bundesregierung auf die Nerven. Bloß hatte in Berlin niemand den Mut, das nicht nur im kleinen Kreis einzugestehen, sondern dem Gesandten Kiews auch einmal öffentlich ein Stoppschild vor die Nase zu stellen. Stattdessen wurden die Verbalattacken des Botschafters in der Regel unterwürfig heruntergeschluckt, verharmlost und zum Abschied gab es für den bekennenden Anhänger des Faschisten Stepan Bandera viele warme, schmeichelnde Worte.

 

Dass die Regierenden in Kiew sakrosankt sind, egal was sie tun, musste auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich lernen, der beim Thema Waffenlieferungen nicht ganz so sehr wie andere aufs Gaspedal tritt. Der Politiker hatte seinen Namen auf einer Feindesliste des "Zentrums gegen Desinformation" des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine wiedergefunden (Mehr zum Fall z.B. beim "Freitag"). Weder das politische Berlin noch die meisten Medien schienen darin irgend ein besonderes Problem zu erkennen. Im Gegenteil wurde der Sozialdemokrat selbst zum Ziel weiterer medialer Attacken, als er öffentlich machte, er sei wegen der Brandmarkung als vermeintlicher Feind der Ukraine bereits bedroht worden. Sein "Vergehen": Er hatte den Begriff "Terrorliste" verwendet, was nicht der von Kiew gewählten offiziellen Bezeichnung entsprach. 

 

Menschen zu Dünger machen

Was die Presselandschaft angeht, gibt es leider im tobenden Informationskrieg inzwischen ohnehin wenig Licht und viel Schatten. Und dabei denke ich nicht bloß an "Springer"-Beschäftigte, von denen drei für ihre spezielle Art von Berichterstattung gerade mit Orden der Ukraine belohnt wurden (Präsidenten-Erlass, Ukrainisch). Bei solchen Pressevertretern ist es natürlich nicht verwunderlich, wenn einer schon mal darüber jubelt, wie ukrainische Soldaten russische Soldaten "zu Dünger gemacht" hätten. Aber auch ein Osteuropa-Korrespondent, dessen Expertise ich eigentlich immer sehr schätzte, äußerte küzlich in einem Interview mit dem oppositionellen russischen Internetportal Meduza (Russisch), die Erfahrungen in der Ukraine hätten ihn so verändert, dass er sich mittlerweile über Videoaufnahmen freue, auf denen die Ukrainer russische Militärtechnik oder Soldaten "vernichten". Manche einstmals seriöse Journalistenkollegen vermelden und "liken" inzwischen gefühlt jede Mitteilung des ukrainischen Militärs und der politischen Führung des Landes. Eigentlich sollten sie wissen, dass alle Seiten im Krieg wilde Propaganda betreiben. Manche teilen auch bedenkenlos Videoaufnahmen von Kriegsgefangenen, obwohl deren Aussagen vor der Kamera nur eines belegen: Dass sie nicht entsprechend der Genfer Konvention behandelt werden (mehr dazu beim Deutschen Roten Kreuz). Die Grenzen zwischen Journalismus, Aktivismus und Propaganda verschwimmen. 


In deutschen Medien wird immer wieder thematisiert, auf welch monströse Weise in den russischen Staatsmedien zum Hass gegen Ukrainer, den Westen und Regimekritiker aufgestachelt wird. Figuren wie der ehemalige Chef des russischsprachigen Programms von RT, Anton Krasowski, sorgen zurecht für Abscheu. Der Fernseh-Propagandist hatte sich mehrfach öffentlich Mordphantasien hingegeben (Zusammenstellung bei "Cholod", Russisch) und Oppositionellen oder antirussisch gesonnenen Ukrainern den Tod gewünscht, was seine Vorgesetzten lange nicht störte. Erst, als er dazu aufrief, ukrainische Kinder zu ertränken und zu verbrennen, wurde er doch noch gefeuert. Und auch im ukrainischen Fernsehen wurde schon unwidersprochen zur Ermordung sämtlicher Russen aufgerufen. All das gehört zu den grässlichen Fratzen des von Wladimir Putin begonnenen Krieges. In Deutschland sind die Zustände noch anders. Und das sollte so bleiben. Deshalb müssen die Hassprediger gestoppt werden. Auch, wenn sie aus der Ukraine kommen oder wenn sie vorgeben, dass sie sich für die Ukraine starkmachen.

Europas Interessen sind nicht unbedingt Selenskyjs Interessen

Die oben geschilderte Gefahr, dass auch im Westen die Gesellschaft vollends vergiftet wird, ist aber womöglich nicht einmal das schlimmste Problem. Denn da sind auch noch die - aus Sicht der ukrainischen Führung ein Stück weit nachvollziehbaren - Bemühungen, Westeuropa immer stärker in das Kriegsgeschehen hineinzuziehen. Bereits Anfang Oktober forderte Wolodymyr Selenskyj mit Nachdruck Präventivschläge der Nato (Bericht und Video z.B. bei Focus.ua, Russisch/Ukrainisch). Als selbst Verbündete sich darüber irritiert zeigten, ruderte er zwar zurück und erklärte, seine (unmissverständlichen) Aussagen seien falsch verstanden worden. Aber das hinderte ihn nicht daran, nach dem Raketenvorfall im Osten Polens einen neuen Vorstoß zu starten. Zahlreiche Medien (darunter auch eigentlich seriöse), aber auch Politiker wie die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und manche Osteuropa-Experten übernahmen sofort ungeprüft Selenskyjs Narrativ vom russischen Angriff auf Nato-Gebiet.

Die Printausgabe der "Bild" mit der riesigen Aufmacherzeile "Putin feuert Raketen auf Polen"  und dem winzigem Zusatz "nach amerikanischen Angaben" lag  noch in den Kiosken herum, als die Behauptung längst unhaltbar und von Amerikanern und Polen dementiert worden war. "Es scheint unter deutschen Experten fast so etwas wie einen Überbietungswettbewerb zu geben, wer schneller die Positionen der ukrainischen Regierung übernimmt", schrieb Sabine Rennefanz danach in einer bemerkenswerten Kolumne, die - noch bemerkenswerter - bei Spiegel Online erschien: "Ohne die Solidarität mit der Ukraine infrage zu stellen: Die westlichen Verbündeten auf Basis von Gerüchten und Falschinformationen in den Krieg hineinziehen zu wollen, ist alles andere als verantwortlich."

Genau das scheint aber die Strategie in Kiew zu sein - und zwar womöglich nicht nur gegenüber den Geldgeber- und Unterstützerstaaten aus EU und Nato. Im November berichtete auch Georgiens (prowestlicher) Regierungschef Irakli Garibaschwili im Parlament in Tiflis (Bericht u.a. bei Jam News, Englisch) von Versuchen der Ukraine und Teilen der georgischen Opposition, in der Kaukasus-Republik eine "zweite Front" zu eröffnen, um dadurch russische Kräfte zu binden. Eine Rückeroberung der verlorenen Separatistengebiete Abchasien und Süd-Ossetien wäre die dafür lockende Belohnung. Dass diese Strategie bislang nicht aufging, dass nach dem Absturz der verirrten Rakete(n) in Polen sowohl die amerikanische Führung als auch die Falken in Warschau besonnen reagierten, bedeutet, dass die maßgeblichen Akteure des Westens nach wie vor einen ganz großen Krieg vermeiden wollen. Immerhin. Eine Garantie, dass er der Welt erspart bleibt, ist das aber nicht.

Die Ukraine kann als Staat in ihrer bisherigen Form allenfalls bestehen, wenn sie auf Jahre oder eher Jahrzehnte hinweg vom Westen massiv alimentiert wird. Faktisch dürfte es darauf hinauslaufen, dass ein großer Teil des Staatshaushaltes von westlichen Sponsonren aufgebracht werden oder der Westen beschlagnahmte russische Vermögenswerte in die Ukraine umleiten muss. Die Staaten des Westens werden zudem auch weiterhin hoffentlich einen großen Teil der Flüchtlinge versorgen. Um die Ukraine vor dem Zusammenbruch zu retten, müsste das Land zudem irgendwie aus Westeuropa mit Energie versorgt werden. Die Erwartung, dass Selenskyjs Leute im Gegenzug zumindest dem offenkundigsten Wahnsinn abschwören, erscheint da nicht als maßlos. Genau das sollte die klare Ansage sein, wenn westliche Politiker das nächste Mal auf die "Shaka laka boom boom"-Emissäre aus Kiew treffen.

kp, 19.11.2022


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