Wird Russland frei sein?

Ein Blick auf die russische Anti-Putin-Opposition

Anti-Putin-Demonstration in Frankfurt am Main
Russische Regimegegner demonstrrieren in Frankfurt gegen Putin

Irgendwann wird es ein Russland nach Putin geben. Wie es aussehen wird, lässt sich seriös kaum vorhersagen. Doch dass die russische Opposition dabei eine entscheidende Rolle spielen wird, ist leider eher unwahrscheinlich. Unzählige Gesetzesänderungen der zurückliegenden Jahre machen es unabhängigen Politikern mittlerweile unmöglich, sich ohne Segen der Staatsführung zu profilieren - und sei es auf Bürgermeisterebene. Im öffentlichen Raum finden spätestens seit 2022 keine freien Debatten mehr über politische Grundsatzfragen statt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Russlands Opposition bietet allzu oft ein verheerendes Bild, für das sie zu einem wesentlichen Anteil selbst verantwortlich ist.

Wer verstehen will, was es mit der russischen Opposition auf sich hat, muss sich zunächst klarmachen, dass der Begriff völlig unterschiedliche politische Kräfte umfasst - je nachdem, wer ihn verwendet.

 

Harmlos und abgeschmackt - Die System-Opposition

Auch offiziöse russische Medien nutzen seit vielen Jahren den Begriff "Systemopposition" für Vertreter zugelassener Parteien, die neben dem allmächtigen "Einigen Russland" über politische Mandate verfügen. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die rechtspopulistische "Liberaldemokratische Partei Russlands" (LDPR) sowie die Fraktionen der Parteien "Gerechtes Russland" und "Neue Leute" kommen in der Staatsduma zusammen auf weniger als 30 Prozent der Sitze. Bei ihnen geben teilweise seit Jahrzehnten die selben Gestalten den Ton an Gennadi Sjuganow bei der KPRF, Sergej Mironow beim "Gerechten Russland" und ebenfalls fast 30 Jahre lang - bis zu seinem Tod im Jahr 2022 - Wladimir Schirinowski bei der LDPR.

Der politische Werdegang von Gennadi Sjuganow, der im Sommer 2024 seinen 80. Geburtstag feiern konnte, zeigt anschaulich das Dilemma der "Systemopposition": Einst, in den 1990er Jahren, lehrte der Altkommunist noch Boris Jelzin das Fürchten. Womöglich hätte er 1996 sogar gegen ihn die Präsidentschaftswahl gewonnen, wenn diese nicht zugunsten des unpopulären, bereits schwer kranken, aber massiv vom Westen unterstützten Amtsinhabers manipuliert worden wäre (s. z.B. Analyse von Valenin Michailow in "Electoral Politics", Englisch). In einem "Roten Gürtel" der sich von den südlich von Moskau gelegenen Agrarregionen bis nach Sibirien zog, fuhren kommunistische Kandidaten derweil überlegene Siege bei den Gouverneurswahlen ein. Inzwischen ist Sjuganow nicht einmal mehr der Schatten eines echten linken Frontmanns (Portrait zum 80. bei Meduza, Russisch). In Putins Russland hat er es sich gemütlich eingerichtet in der Rolle des ewigen Pseudo-Oppositionsführers, der gelegentlich die Regierung ein wenig kritisieren darf und in den Fernsehnachrichten gezeigt wird, aber bei allen zentralen Themen dann doch auf der Linie der Staatsführung liegt. Wichtige parteiinterne Entscheidungen werden mit der Präsidialadministration abgesprochen.

Es verwundert nicht, dass weder russische Putin-Gegner, noch westliche Korrespondenten die Oppositionsfraktionen in den Parlamenten ernst nehmen. Das ist nachvollziehbar, aber vermutlich dennoch zu kurz gedacht. Denn gelegentlich kommt es selbst im strikt von oben nach unten reglementierten russischen Politikbetrieb zu Situationen, in denen das System aus dem Takt gerät. Beispielhaft zu nennen wären etwa die Gouverneurs-Wahlen in der riesigen russischen Pazifik-Region Chabarowsk, wo 2018 der als bloßer Zählkandidat angetretene LDPR-Mann Sergej Furgal plötzlich Gefallen an der Idee fand zu gewinnen. Den unbeliebten Amtsinhaber von der Staatspartei "Einiges Russland" fegte er mit riesigem Stimmenvorsprung aus dem Amt. Als Putin rund anderthalb Jahre später Furgal aus dem Amt entließ, kam es zu monatelangen Massenprotesten in der Region (S. z.B. Bericht in der Moskauer Deutschen Zeitung zum Thema). 

 

Verfemt und verfolgt - Die nicht-systemische Opposition

Improvisierte Gedenkstätte für den ermordeten Boris Nemzow in Moskau
Improvisierte Gedenkstätte für den ermordeten Boris Nemzow im Moskauer Zentrum

Wenn im Westen von der russischen Opposition die Rede ist, dann geht es jedoch meist um ganz andere Bewegungen und Persönlichkeiten - nämlich die "nicht-systemische Opposition". Ihre Spitzenvertreter stehen seit vielen Jahren im Fokus massiver staatlicher Schikanen und direkter Verfolgung. Die meisten führenden Köpfe sind spätestens nach dem 24. Februar 2022 ins Ausland geflohen, etliche sitzen in Haft. Einige bezahlten ihre politische Arbeit mit dem Leben, wie der 2015 in Sichtweite des Moskauer Kremls erschossene Liberale Boris Nemzow. 

Die "nicht-systemische Opposition" ist eine bunte Mischung aus Menschen mit völlig unterschiedlichem politischen Hintergrund. Es sind Menschen darunter, die dem Milieu der sowjetischen Dissidenten entstammten, wie der Bürgerrechtler Lew Ponomarjow oder der Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow. Es sind aus der Elite Verbannte, die während des Wildwest-Kapitalismus in den 1990er Jahren zu Macht und Reichtum gekommen waren, wie der ehemals reichste Mann Russlands, Michail Chodorkowski, oder Boris Jelzins Ex-Finanzminister und Ex-Premierminister Michail Kassjanow. Es sind aber auch Vertreter jüngerer aktivistischen Bewegungen, etwa die Weggefährten des Anfang 2024 im Straflager umgekommenen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny oder Politiker, die anfangs noch versuchten, Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems durchzusetzen wie der Ex-Abgeordnete Gennadi Gudkow und dessen Sohn Dmitri Gudkow.

Schließlich gibt es noch eine Gruppe von Oppositionellen, die einerseits zu den nicht-systemischen Kräften gerechnet werden kann, zugleich aber immer im Verdacht steht, letztlich doch im Dienste der Staatsmacht zu agieren. Darunter fällt beispielsweise die TV-Moderatorin Xenia Sobtschak. Die Tochter von Putins politischem Ziehvater Anatoli Sobtschak durfte 2018 sogar als Anti-Establishment-Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen gegen den Staatschef antreten - ganz offensichtlich mit dem Segen aus dessen Präsidialadministration. Möglicherweise war der glamourösen Sobtschak eine Rolle als Werkzeug gegen den ambitionierten Nawalny zugedacht, dessen Kandidatur nicht zugelassen wurde (S. z.B. Bericht Nowaja Gaseta, Russisch). 

Alle oben genannten Oppositionsgruppen haben gemeinsam, dass sie innerhalb Russlands allenfalls in den großen Metropolen auf einen gewissen Rückhalt bauen können. Nur in Ausnahmefällen stand wirklich manchmal eine Mehrheit hinter ihnen.

 

Dass dies so ist, hat mehrere Ursachen. Zum großen Elend im Nachwende-Russland gehört der Umstand, dass niemals Regeln für einen zivilisierten politischen Diskurs und - vor allem - für einen geordneten Machtwechsel etabliert werden konnten. Schon Boris Jelzin hatte daran kein wirkliches Interesse. Eine Partei zu gründen, die grundlegend das System Putin infrage stellt, war schon lange unmöglich, ehe der Ukraine-Krieg 2022 eskalierte. Die russische Obrigkeit geht inzwischen (wieder) mit gnadenloser Härte gegen Andersdenkende vor, brandmarkt sie ganz offiziell als "Auslandsagenten". Im Westen hätten ehrgeizige Politiker wie der Moskauer Ilja Jaschin bei einer Partei Karriere gemacht und wären mit Garantie früher oder später in politische Ämter gekommen. Jaschin, der immerhin auf lokaler Ebene trotz aller Schikanen noch Wahlen gewinnen konnte, blieb dieser Weg verwehrt, wie vielen anderen auch. Er landete wegen seiner Kritik am Kriegskurs des Kremls im Gefängnis und gelangte im Sommer 2024 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Deutschland. 


Erschwerend kommt hinzu, dass sich nach den Wirren der 1990er Jahre für eine Mehrheit derjenigen, die diese Zeit durchleiden mussten, alle Kräfte diskreditiert haben, die sich in der Tradition der prowestlich-liberalen Reformen wähnen. Das Massenelend und die Erschütterungen, die sich durch die gesamte Gesellschaft zogen, haben bei der älteren Generation tiefe Narben hinterlassen. Und wer diese Zeit in Russland miterlebt hat, kann darüber nicht völlig verwundert sein.

Bei der medialen Betrachtung im Westen geht ein weiteres Problem meist unter, weil Leitmedien und Politik in einem doch recht plumpen Schwarz-Weiß-Denken verhaftet sind. Demnach ist jeder, der gegen Putin kämpft, grundsätzlich einer der Guten. Ein Teil der nicht-systemischen Opposition vertritt jedoch so extreme Positionen, dass ihnen auch deshalb in Russland niemand zujubelt. Etwa Figuren wie dem IT-Unternehmer und Politiker Ilja Ponomarjow. Der hatte 2014 noch als einziger der 450 Abgeordneten der Staatsduma gegen die russische Übernahme der Krim gestimmt, wegen dieser mutigen Haltung sein Mandat verloren und musste das Land verlassen. Nach 2022 fiel Ponomarjow, nun vom Exil in Kiew aus, durch seine Kontakte und politische Bündnisse mit obskuren Rechtsradikalen und Militanten auf (S. z.B. Deutsche Welle, Russisch), die mit russischen Freiwilligenverbänden auf Seiten der Ukraine kämpften und Guerilla-Aktionen in der Grenzoperation starteten. Er übernahm nach dem Mordanschlag auf die nationalistische Journalistin Daria Dugina die Rolle des Sprechers der angeblichen Täter. Kaum vorstellbar, dass er noch einmal eine politische Karriere in Russland machen wird.

 

Alle gegen jeden

Russlands nicht-systemische Opposition ist außerdem dazu verdammt, sich in endlosen Streitigkeiten und internen Machtkämpfen aufzureiben. Anläufe, alle Putin-Gegner zu vereinen, gab es genügend. Die ersten Versuche ("Komitee 2008") liegen mittlerweile schon 20 Jahre zurück. In der Koalition "Anderes Russland" marschierte der prowestliche Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow gemeinsam mit den Nationalbolschewisten von Eduard Limonow, deren Parteifahne eine Mischung aus Sowjet- und NS-Symbolen zeigt, durch die Straßen. Im Zuge der Massenproteste gegen Wahlfälschungen 2011 gewann die Koalition "Bürgerbewegung" beachtlichen Zuspruch, als der Schlachtruf "Russland wird frei sein!" zehntausendfach zu hören war. Eines der vielen Vereinigungsprojekte firmierte sogar unter dem Namen "Solidarnost". Doch nie entstand daraus etwas, was auch nur annähernd mit der legendären polnischen Gewerkschaft vergleichbar gewesen wäre, die einst den kommunistischen Ostblock ins Wanken brachte. Und keiner der vielen selbsternannten Oppositionsführer wurde je zu einem zweiten Lech Wałęsa. Übrigens auch Nawalny nicht.

Stattdessen wurden selbst unter vermeintlich politisch Gleichgesinnten immer wieder Schlammschlachten ausgetragen, die letztlich einen erheblichen Anteil an der Bedeutungslosigkeit der russischen Opposition haben. Die jüngsten Kapitel dieses Dramas spielten sich bereits unter den mittlerweile ins Exil vertriebenen Gruppen ab. Da gab es im Spätsommer 2024 Recherchen der von Nawalny gegründeten "Stiftung zum Kampf gegen die Korruption" mit dem Ergebnis, ein gewalttätiger Angriff auf den langjährigen Nawalny-Weggefährten Leonid Wolkow in Vilnius und zwei weitere Überfälle auf Oppositionelle seien gar nicht von Putins Schergen in Auftrag gegeben worden, sondern von dem oppositionellen Geschäftsmann Leonid Newslin, einem früheren Partner des Ex-Oligarchen Chodorkowski. Wenig später veröffentlichte der Oppositionspolitiker Maxim Kats ein Enthüllungsvideo, dessen Inhalt es ebenfalls in sich hatte: Die Nawalny-Stiftung soll gegen großzügige

Millionen-Zuwendungen den beiden ehemaligen Eigentümern der russischen "Probusinessbank" geholfen haben soll, nachdem diese ihre Anleger um mehrere hundert Millionen Dollar geprellt hätten (Bericht z.B. bei Holod, Russisch). Dank Fürsprache der Nawalny-Leute sollen die beiden Banker als Putin-Gegner im Westen Unterschlupf gefunden haben. "Das Einzige, was noch Hoffnung gibt, ist, dass es sich um eine kolossale und sehr durchtriebene Provokation der russischen Geheimdienste handelt", kommentierte der oppositionelle Journalist Sergej Parchomenko die Selbstzerfleischung der Oppositionskräfte (zitiert nach Meduza, Russisch). Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja räumte inzwischen in einem Interview ein, die Zusammenarbeit mit den beiden Bankern sei ein Fehler gewesen (Bericht Mediazona, Russisch).


Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Debatte um die Anti-Putin-Demonstration in Berlin im November nachvollziehbar, zu der Julia Nawalnaja, Jaschin sowie der ebenfalls bei dem großen Austausch in den Westen gelangte Journalist Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten. Bereits das Mobilisierungsvideo zu der Kundgebung sorgte für mächtigen Ärger. Darin wurde ein Foto von regierungskritischen russischen Demonstranten gezeigt, die 2014 mit russischen und ukrainischen Fahnen durch Moskau zogen (was damals noch geduldet wurde). Einen Teil der Politemigranten brachte das gegen die Organisatoren auf: Keineswegs dürfe die russische Trikolore mehr öffentlich gezeigt werden. Sie sei durch den Krieg zu sehr diskreditiert. Dann gab es Streit, inwieweit auch russische Emigranten fordern sollten, dass der Westen mehr Waffen an die Ukraine zum Kampf gegen Russland liefert. Letztlich kamen deutlich weniger Menschen zu dem Protestzug als die Veranstalter erwartet hatten (Bericht z.B. Zeit Online).


Gut möglich, dass irgendwann der Unmut gegen die herrschenden Verhältnisse in Russland so groß wird, dass auch die Opposition eine reale Chance bekommt, dass weitere Schicksal des Landes zu bestimmen. Wahrscheinlich werden das aber andere Kräfte sein, als die, die sich westliche Regierungen gerne wünschen. Denn die größte Gefahr für das System Putin geht vermutlich nicht von den vielen liberalen Splittergruppen aus - sondern von radikalen, mittlerweile kriegserprobten Kräften, die bislang noch gar nicht offen aufgetreten sind, von gut bewaffneten und kampferprobten Ultranationalisten und Fanatikern mit Verbindungen in Armee und den riesigen Sicherheitsapparat. Einen Vorgeschmack darauf, was da drohen könnte, gab bereits der zwischenzeitlich vom Gangster zum Anführer einer Privatarmee aufgestiegene Jewgeni Prigoschin mit seiner bewaffneten Meuterei im Sommer 2023. 

 


kp, aufgeschrieben am 22.11.


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