Warten auf die Diplomatie - Wer rettet die Ukraine?

"Wir stehen der Ukraine bei, solange wie nötig" - Treueschwur am EU-Parlament
"Wir stehen der Ukraine bei, solange wie nötig" - Treueschwur am EU-Parlament

Das politische Establishment in Brüssel und Berlin war empört, viele Zeitungskommentatoren taten es ihnen gleich: Ungarns umtriebiger Ministerpräsident Viktor Orbán sorgte im Juli mit seiner selbst initiierten Friedensmission für so viel Ärger in den westlichen Hauptstädten, dass die EU-Kommission einen geplanten Besuch in Budapest absagte. Das neu gewählte EU-Parlament verurteilte die diplomatischen Bemühungen der Ungarn sogar mit großer Mehrheit.

Der Versuch, mit Pendeldiplomatie im seit zweieinhalb Jahren tobenden Krieg in der Ukraine einen Waffenstillstand näherzubringen, rüttelt am westlichen Mantra vom unausweichlichen militärischen Sieg über Russland. Seit den - auch dank des westlichen Störfeuers - gescheiterten Verhandlungen von Istanbul (Bericht z.B. Telepolis) hat es keine ernsthaften diplomatischen Bemühungen für ein Ende des Krieges mehr gegeben. Könnte sich das bald ändern?

"Die Ukraine muss siegen" hört man noch immer von manchen Entscheidungsträgern im Westen, etwa von Noch-Nato-Generalsekretär Stoltenberg (Bericht z.B. Standard). Aber die Parole klingt inzwischen schal - wie ein Beschwörungszauber, den man vermeintlich nur oft genug wiederholen muss, damit er wirkt. Dabei sind selbst viele westliche Militärs seit Langem überzeugt: Das Ziel, der Ukraine durch immer mehr Waffenlieferungen zur Rückeroberung ihres gesamten früheren Staatsgebietes zu verhelfen, ist unrealistisch. (Das war es bereits vor anderthalb Jahren).

900 Tage nach dem russischen Großangriff auf das Nachbarland ist die Ukraine ist ein ausgebluteter Staat mit zerstörter Wirtschaft und Infrastruktur, dessen Bevölkerung durch Krieg und Flucht in atemberaubendem Tempo schrumpft. Nach einer aktuellen UN-Prognose bleiben dem Land selbst bei günstiger Entwicklung (massenhafte Rückkehr der Flüchtlinge in wenigen Jahren, keine größeren Gebietsverluste) bis 2100 womöglich nur noch um die 15 Millionen von einst 50 Millionen Bürgern (Bericht z.B. Ukrainska Pravda, Englisch)Die Regionen entlang der Front im Osten sind Trümmerwüsten und auf viele Jahre oder Jahrzehnte mit Minen und Streumunition verseucht. Vor allem aber wirkt der Zeitfaktor nicht zugunsten der Ukrainer: Es finden sich kaum noch Männer, die ihr Land freiwillig gegen die Angreifer verteidigen wollen. 
Einem Bericht des ukrainischen Anti-Korruptions-Portals "NGL Media" (Ukrainisch/Englisch) zufolge boomt der Markt für Scheinehen mit schwerbehinderten Frauen - eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten für ukrainische Männer, vom Kriegsdienst zurückgestellt zu werden. Schlimmer noch: Dutzende Ukrainer kamen bereits beim Versuch ums Leben, ins westliche Ausland zu flüchten (Bericht z.B. korespondent.net/Ukrainisch) - die meisten ertrinken im Grenzfluss Theiß (Tisza). Mittlerweile gibt es Berichte (z.B. Berliner Zeitung), dass ein Mann, der nicht an die Front wollte, bei einem Fluchtversuch von ukrainischen Grenzern erschossen wurde - wie einst in der DDR.

 

Ukrainische Flüchtlinge sollen kämpfen gehen

"Wir werden an der Seite der Ukraine stehen, solange es nötig ist", war bei meinem letzten Brüssel-Besuch auf einem riesigen Propaganda-Plakat am EU-Parlament zu lesen. Der Ansatz ist grundsätzlich nicht falsch, allerdings stellt sich angesichts der desaströsen Lage immer drängender die Frage, ob diese Art von "Hilfe" des Westens der Ukraine tatsächlich hilft. Wenn von "Hilfen" für die Ukraine die Rede ist, geht es seit über zwei Jahren ganz überwiegend um Waffen- und Munitionslieferungen, die amerikanischen und europäischen Rüstungsschmieden Milliardenprofite und ihren Aktionären sagenhafte Dividenden bescheren. Diese "Hilfen" konnten bislang eine militärische Niederlage der Ukraine abwenden, bieten aber keine Perspektive für ein Ende der Krise, da sie nicht von diplomatischen Bemühungen flankiert werden.


Je länger der Krieg dauert und je mehr Geld dafür ausgegeben wird, desto weniger verbergen Politiker der EU- und Nato-Staaten noch, dass es ihnen letztlich kaum um die Menschen aus dem geschundenen Land geht. Schon seit dem Frühjahr fordern Leute wie der CDU-Scharfmacher Roderich Kiesewetter, wehrpflichtigen Ukrainern das Bürgergeld zu streichen, um sie zur Heimkehr (und zum Kämpfen) 
zu bewegen (Bericht z.B. Zeit Online). Die Weigerung vieler Bundesländer, ukrainischen Männern mit abgelaufenen Pässen Ersatzpapiere auszustellen, da ihnen eine Rückkehr ins Heimatland zur Erfüllung der Wehrpflicht zuzumuten sei (Bericht z.B. im Tagesspiegel), ist an Zynismus kaum noch zu überbieten.

Dass Nato und EU der 2022 vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell geprägten Losung treu bleiben, der Krieg müsse "auf dem Schlachtfeld" entschieden werden, wird vor allem mit Russlands Bedingungen für einen Friedensschluss begründet, die tatsächlich einem Diktatfrieden gleichkommen. Der dauerhafte Verlust der von Moskau eroberten Gebiete und erst recht die Aufgabe der restlichen, noch von Kiews Truppen gehaltenen Teile der Verwaltungsregionen Donezk, Lugansk, Cherson, und Saporischje wären für keine ukrainische Regierung zu akzeptieren. Russlands Kernforderung - der dauerhafte Verzicht auf eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft - scheint den Nato-Staaten unvorstellbar. Auch dem Ungarn Orbán auf "Friedensmission" machte Wladimir Putin keine anderen, besseren Angebote (Mitschnitt der gemeinsamen PK zum Beispiel bei RBK, Russisch).

Die vom ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj propagierte "Friedensformel", die den kompletten Abzug der russischen Truppen hinter die Grenzen der Ukraine von 1991, russische Reparationen und eine Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen auf russischer Seite vorsieht (Bericht z.B. ND), mag dem Gerechtigkeitssinn der Europäer nahekommen. Aber sie entspricht - wie man in Moskau höhnisch zu entgegnen pflegt - nicht den "Realitäten auf dem Boden". Daran werden voraussichtlich auch der überraschende Vorstoß ukrainischer Truppen über die russische Grenze Anfang August und die Eroberung von Teilen der russischen Region Kursk mitsamt der für den Gastransit wichtigen Kleinstadt Sudscha nicht viel ändern.
 

Vermittler gesucht

Auf den ersten Blick scheinen die Fronten somit noch immer verhärtet zu sein. Und dennoch ist einiges in Bewegung, vor allem vor dem Hintergrund der weiterhin drohenden Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Nach einer von Kiew und seinen westlichen Unterstützern der Ukraine anberaumten Friedenskonferenz in der Schweiz, zu der Russland gar nicht erst eingeladen worden war (Bericht z.B. Neue Zürcher Zeitung), konnte sich die Ukraine im Sommer plötzlich doch eine russische Teilnahme an weiteren Friedensgesprächen prinzipiell vorstellen. Eigentlich gilt ein ausdrückliches Verbot von Verhandlungen mit Russland bis zum Ende der Herrschaft Putins, doch Ende Juli erklärte Selenskyj: "Ob das Putin sein wird, ob das nicht Putin sein wird, was macht das schon für einen Unterschied?" (zitiert nach Kommersant, Russisch). 

 

Was für einen Übergang vom heißen Krieg zu Verhandlungen jedoch weiterhin fehlt, sind geeignete Vermittler. Die Staaten des Westens sind längst selbst Konfliktpartei. Viele westliche Verantwortungsträger haben zudem, wie im Fall der deutschen Außenamtschefin Baerbock, unter Beweis gestellt, dass sie für heikle diplomatische Aufgaben denkbar ungeeignet sind. Der Ungar Orbán ist - ob er mit seiner Friedensmission nun redliche Ziele verfolgte oder nur Selbst-PR betrieb - ebenfalls kein Vermittler, denn im eigenen Lager gilt er als Moskaus Trojanisches Pferd (was er nicht ist). Ähnliches gilt für den türkischen Staatschef Erdogan, dessen Vermittlungsangebote auch vom Kreml abgelehnt wurden. Die Staatslenker des globalen Südens, die seit 2022 vehement ein Ende des Krieges und Verhandlungen einfordern, werden weder vom Westen, noch von Russland wirklich ernstgenommen. China hätte zwar Autorität und Einfluss, wird aber vom Westen längst ebenfalls als Gegner betrachtet, dem man nicht über den Weg traut. Zudem profitiert wohl keine andere Macht auf der Welt bislang so sehr von den globalen Verwerfungen des Ukraine-Konflikts - der Russland zum billigen Rohstofflieferanten für die Volksrepublik degradiert und zugleich das Ende der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung des Westens beschleunigt hat. 

 

Zu den wenigen Staaten, die zu Russland und dem Westen noch gleichermaßen gute Beziehungen unterhalten, zählt Kasachstan. Offiziell wirtschaftlich und militärisch eng mit Russland verbunden, fahre Staatschef Qassym-Schomart Tokajew dennoch eine von Moskau unabhängige Linie in der Ukraine-Frage, notierte die Politologin Alexander Sitenko im IPG-JournalKasachstan sei "bestens geeignet für Verhandlungen" - auch, weil es bereits als Gastgeber für andere alles andere als einfache Gespräche in Erscheinung getreten sei. So trafen sich in der mittelasiatischen Republik bereits Unterhändler zu Gesprächen über das iranische Atomprogramm und Vertreter der in den syrischen Bürgerkrieg verwickelten Mächte zu ihren Gesprächen im "Astana-Format". Auch die arabische Welt könnte zwischen Russland, Ukraine und dem Westen vermitteln. Wie die Washington Post berichtete (Englisch), wurden zuletzt mit Hilfe des Emirats Katar russisch-ukrainische Geheimverhandlungen mit dem Ziel vorbereitet, zumindest gegenseitige Angriffe auf Energieobjekte und Industrieanlagen zu stoppen. Der ukrainische Vorstoß Richtung Kursk habe dazu geführt, dass die russische Seite das anberaumte Treffen in letzter Sekunde platzen ließ.

 
Nach der für das russische Militär offenbar unerwarteten ukrainische Offensive über die russische Grenze scheinen nun auf den ersten Blick die Karten neu gemischt zu werden. Was das ukrainische Oberkommando mit dem Großangriff bezwecken will, ist bislang nicht abschließend klar. Möglicherweise sollen die eroberten russischen Ortschaften als Faustpfand dienen und bei "potenziellen Waffenstillstandsgesprächen" sicherstellen, dass die russische Seite ihre Bedingungen nicht einfach durchdrücken kann. So äußerte sich zumindest der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak auf X (Englisch). Ob die Rechnung aufgeht, ist mehr als ungewiss. Möglicherweise tritt auch das Gegenteil ein, und die russische Führung setzt nach der neuerlichen Eskalation nun ihrerseits noch verbissener auf eine Fortsetzung des Krieges. 

Auch mit dem psychologischen Effekt der Offensive könnten sich die Ukrainer verrechnet haben. Laut Podoljak sollte die russische Bevölkerung in Schrecken versetzt werden, weil die bislang ausschließlich auf ukrainischem Gebiet geführten Kämpfe und all der damit verbundene Horror nun auf auf das eigene Land übergriffen hätten. Bilder von deutschen Panzern, die (wie im Zweiten Weltkrieg) Richtung Kursk rollen, könnten aber statt zu demotivieren umgekehrt auch die patriotische Stimmung in Russland anheizen und noch mehr Freiwillige in die Rekrutierungsstellen der russischen Streitkräfte treiben. Damit sich eine nennenswerte Kriegsmüdigkeit im autoritär regierten Russland Bahn bricht, müsste wohl ein viel größeres Territorium betroffen sein als die vergleichsweise kleine Grenzregion.

Auch das regierungskritische ukrainische Online-Portal Strana (Russisch/Ukrainisch) sieht die Perspektiven der Operation deshalb skeptisch. Ende 2022 sei die militärische Lage für Russland nach dem Zusammenbruch der Front im Gebiet Charkow und dem erzwungenen Abzug aus der zuvor eroberten Großstadt Cherson deutlich kritischer gewesen. Damals hätten die militärischen Erfolge der Ukraine Putin jedoch keineswegs gefügiger gemacht. Mit einer russischen Teilmobilisierung habe Moskau vielmehr den Wetteinsatz erhöht.

(kp. aufgeschrieben am 18. August 2024)


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