"Ich hob den Kopf und sah einen Wald aus Glockentürmen."
Alexandre Dumas der Ältere (1802-1870), französischer Schriftsteller, über Uglitsch
Trotz seiner Lage an der Wolga scheint die Kleinstadt Uglitsch irgendwie noch nicht ganz im 21. Jahrhundert angekommen zu sein. Und obwohl Moskau gerade einmal 200 Kilometer entfernt liegt, ist hier von der Hektik der russischen Hauptstadt nichts mehr zu spüren. Mit seinen vielen Kirchen und Klöstern hat Uglitsch sich eine gute Portion des Flairs einer alten, vorrevolutionären Provinzstadt bewahrt. Touristen nähern sich dem sehenswerten Ort gewöhnlich bei einer Rundreise zu den Städten des Goldenen Rings oder auf einer Flusskreuzfahrt auf der Strecke von Moskau nach Sankt Petersburg. Auf dem Gelände des Uglitscher Kremls können sie tief in die russische Geschichte eintauchen, denn hier kam es vor über 500 Jahren zu einem ebenso mysteriösen wie folgenschweren Todesfall - der Russland 15 Jahre Chaos bescherte.
Uglitsch ist wahrscheinlich fast 1.100 Jahre alt und definitiv eine der ältesten Städte Russlands. Im 13. und 14. Jahrhundert befand sich hier zeitweise die Hauptstadt eines eigenständigen russischen Fürstentums, das schließlich aber an Moskau fiel. Eine zentrale Bedeutung spielte die Stadt an der Wolga nach dem Tod von Zar Iwan IV. ("des Schrecklichen"). Dessen vermutlich kaum handlungsfähiger Sohn Fjodor I. hatte in Moskau den Thron bestiegen und seinen erst zweijährigen Halbbruder Dimitri mit dessen Mutter nach Uglitsch verbannt. Dort kam der Zarensohn 1591 unter ungeklärten Umständen durch eine Stichwunde ums Leben. Als der kinderlose Fjodor wenige Jahre später verstarb, endete die Zarendynastie der Rurikiden und in Russland begann die "Zeit der Wirren". Während des folgenden 15 Jahre andauernden chaotischen Machtkampfes beanspruchten unter anderem zwei Pseudo-Dmitris die Thron für sich. Im Volk hielt sich der Glaube, Dmitri sei in Uglitsch womöglich gar nicht getötet worden, sondern damals vorübergehend verschwunden.
Uglitsch ist heute eine Kreisstadt auf dem Territorium des Verwaltungsgebiets Jaroslawl mit noch rund 30.000 Einwohnern.
Nach der Oktoberrevolution wurde die Wolga in Stadtnähe aufgestaut und bildet stromaufwärts den Uglitscher Stausee. Obwohl die Stadt wenige Jahre nach der Revolution bei einem Großbrand schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde, gibt es noch etliche historische Sehenswürdigkeiten, darunter 23 orthodoxe Kirchen und drei Klöster.
Wer nicht an Bord eines komfortablen Wolga-Kreuzfahrtschiffes nach Uglitsch reist, muss eine etwas mühsame Anreise auf sich nehmen. Für einen Tagesaussflug ist es eigentlich zu weit. Am einfachsten gelangt man mit dem Bus aus Moskau in die Wolga-Stadt. Es gibt mehrere Abfahrten täglich von einer Busstation an der Volkswirtschaftsausstellung WDNCh. Die Fahrt dauert mindestens vier Stunden.
Mitten im Zentrum von Uglitsch, direkt am Wolgaufer, befindet sich der Kreml der Stadt. Die einstigen Befestigungs-Erdwälle und hölzernen Palisaden existieren heute nicht mehr. Auf dem parkartigen Gelände ist noch der alte Fürstenpalast aus dem 15. Jahrhundert, eines der ältesten erhaltenen steinernen Wohngebäude Russlands.
Direkt daneben steht die markante weiß-rote Demetrios- oder Blutkirche mit ihren blauen Kuppeln. Sie wurde 1692 genau an dem Ort erbaut, an dem der Zarewitsch Dmitri ums Leben kam. Die Fresken in der Kirche lassen dabei keine Zweifel, dass der Junge Opfer eines Mordkomplotts wurde. In der Blutkirche wird auch die berühmte "verbannte Glocke" verwahrt. Sie war nach dem Tod des Kindes geläutet wurde, um die Stadtbevölkerung von der Tragödie zu informieren und löste der Legende nach einen Volksaufstand der Uglitscher gegen die Männer des Bojaren Boris Godunow aus, der als wahrscheinlicher Drahtzieher des Mordes gilt. Die Revolte wurde blutig niedergeschlagen, viele Teilnehmer hingerichtet - und die Glocke für 300 Jahre ins sibirische Tobolsk verbannt.
Sehenswert ist auch die auf Anordnung von Zar Peter dem Großen erbaute Verklärungskirche aus dem 18. Jahrhundert mit ihrem separat errichteten Glockenturm und einer prächtigen Ikonenwand. (kp)