"Du schläfst ein zum Flüstern von Wolga und Twerza, du schläfst ein zum Flüstern der Birken. Schlaf gut, mein Mütterchen Twer."
Michail Krug (1962-2002), russischer Chanson-Sänger in "Meine liebe Stadt"
Der einzige Eindruck von Twer, den viele Russlandreisende mit nach Hause nehmen, ist ein kurzer Blick aus dem Fenster der Hochgeschwindigkeitszüge auf der Fahrt von Moskau nach St. Petersburg. Das ist eigentlich schade: Das Provinzzentrum am Oberlauf der Wolga mit heute mehr als 400.000 Einwohnern hat zwar keine weltbekannten Attraktionen zu bieten, ist aber durchaus ein lohnenswerter Zwischenstopp. Im späten Mittelalter war Twer Moskaus größter Widersacher im Machtkampf der rivalisierenden russischen Fürstentümer eine der größten Städte im heutigen Russland. Aus dieser Zeit gibt es allerdings kaum noch Zeugnisse zu bestaunen. Nach zwei verheerenden Großbränden im 18. Jahrhundert wurde die Stadt im klassizistischen Stil von den besten Baumeistern des Zarenreichs wieder aufgebaut. Im Zentrum sind viele historische Straßenzüge gut erhalten, die damals nach Petersburger Vorbild entstanden.
Twer ist etwas älter als Moskau. Im Jahr 1135 wurde die Stadt am Zusammenfluss von Wolga und Twerza erstmals urkundlich erwähnt. Aufgrund ihrer Lage am Handelsweg zwischen Nowgorod und Moskau wuchs ihr Einfluss, bis sich das Fürstentum Ende des 15 Jahrhunderts Moskau unterwerfen musste. Aus der Zeit nach dem Wiederaufbau der Stadt Ende des 18. Jahrhunderts ist unter anderem der einstige "Reisepalast" von Katharina der Großen erhalten geblieben, in dem die Kaiserin auf dem Weg von Petersburg nach Moskau zu übernachten pflegte. Anfang des 19. Jahrhunderts kam auch der russisch-italienische Baumeister Carlo di Giovanni Rossi, der Architekt des Generalstabs-Gebäudes am Petersburger Schlossplatz, nach Twer und gestaltete die Stadtplanung maßgeblich mit. Sehenswert aus dieser Epoche sind etliche Kirchen und das regionale Dramentheater.
Zu Sowjetzeiten wurde die Stadt in Kalinin umbenannt - zu Ehren des sowjetischen KP-Funktionärs Michail Kalinin, der in der Stalin-Zeit als formelles Staatsoberhaupt der UdSSR fungierte und bis heute als Namenspatron für Kaliningrad, das frühere Königsberg dient. Im Zweiten Weltkrieg war Twer bzw. Kalinin zwei Monate lang von der Wehrmacht besetzt, bei deutschen Luftangriffen wurde die Stadt stark zerstört. Inzwischen sind die Beziehungen zu Deutschland besser: Twer ist offizielle Partnerstadt von Osnabrück.
Auf Besucher macht Twer keinen großstädtischen Eindruck, vor allem, wenn man aus dem quirligen Moskau kommt. Das Zentrum wirkt beschaulich, und am nördlichen Ufer der Wolga gibt es sogar noch viele eingeschossige Häuser. In den vergangenen 20 Jahren wurden etliche historische Bauwerke in der Innenstadt saniert. Die zentrale Trjochswjatskaja Uliza im Zentrum wurde vor einigen Jahren in eine Fußgängerzone umgewandelt. Hier befinden sich heute Läden und Cafés. Aufgefallen ist uns das "Haus des Brotes", das regionale Backspezialitäten verkauft. Aber auch die großen internationalen Marken sind hier inzwischen mit Filialen vertreten. Ein Denkmal erinnert an einen der bekanntesten Einwohner der Stadt, den König des russischen "Ganoven-Chansons", Michail Krug.
Visitenkarte des Provinzzentrums ist bis heute die lange Uferstraße auf der Südseite der Wolga. Im Sommer trifft sich hier gefühlt halb Twer zum Bummeln, oder um den Kindern
ein Eis oder eine Zuckerwatte im zentralen Stadtpark zu kaufen. Hier gibt es auch einige Rummel-Attraktionen für Kinder. Ein beliebtes Fotomotiv ist das Denkmal für Nationaldichter Alexander
Puschkin kurz vor der alten, Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten Wolga-Brücke, die vom Aussehen her an die Kettenbrücke in Budapest erinnert. An dieser
Stelle befindet sich auch der Reisepalast von Katharina der Großen. Erbaut wurde er von Matwej Kasakow, dem Architekten des
Senatsgebäudes im Moskauer Kreml und der alten
Moskauer Universität. Nach jahrzehntelangen Restaurierungsarbeiten ist der Palast mittlerweile wieder öffentlich zugänglich. Hier befindet sich die Gemäldegalerie des Verwaltungsgebiets
Twer.
Wenige Schritte stromabwärts gibt es mit dem Kinotheater "Swesda" einen sehenswerten Bau aus der frühen Sowjetzeit im Stil des Konstruktivismus. Einen
weniger schönen Anblick bietet das ehemalige Empfangsgebäude des Passagierhafens (der "Flussbahnhof") aus der Stalin-Ära. Nach jahrelanger Vernachlässigung stürzte das einstige Wahrzeichen der Stadt im Sommer 2017 teilweise ein. Ein Wiederaufbau scheiterte
bislang am fehlenden Geld.
Twer ist gut an das russische Eisenbahnnetz angebunden. Express-Regionalzüge vom Typ "Lastotschka" benötigen nur noch rund zwei Stunden bis nach Moskau und verkehren regelmäßig den gesamten Tag über. Ein Besuch ist deshalb problemlos von der russischen Hauptstadt aus auch als Tagesausflug machbar.
Außerdem stoppen am Bahnhof südlich des Stadtzentrums viele Fernzüge zwischen St. Petersburg und teils weit entfernten Orten. Vom Bahnhof ist es recht weit in die Innenstadt, die Hauptstraße ist auch nicht besonders schön. Eine Fahrt mit Bus oder Marschrutka-Sammeltaxi empfiehlt sich deshalb.
Aktualisiert im Oktober 2020.