"Nicht immer heilst du mit der Wahrheit die Seele."
Maxim Gorki (1868-1936), russischer Schriftsteller
Schon vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs wurde Medienkompetenz mit jedem Jahr wichtiger. In den vergangenen Wochen bin ich so oft wie noch nie gefragt worden, wem und was man in der aktuellen dramatischen Krise zwischen Russland und dem kollektiven Westen eigentlich noch glauben darf. Tatsächlich wird die öffentliche Meinung von den verschiedensten Akteuren auf allen denkbaren Kanälen beeinflusst und manipuliert - oft keineswegs aus edlen Motiven. Manchmal hatte es den Anschein, dass das Problem bei allem, was mit Russland zu tun hatte, immer schon ein wenig größer war als bei anderen Dingen. Für Krisen- und Kriegszeiten gilt dies umso mehr. Wie also erkennt man vertrauenswürdige Informationen, wie unterscheidet man seriöse Berichte von Manipulation, Fakten von Fake News und Propaganda?
Ich schreibe das einmal aus meiner Sicht als Journalist auf. Zunächst die Binsenweisheit: Wer verlässliche Informationen sucht und wenig Zeit hat, sollte prinzipiell zuerst auf etablierte Medien zurückgreifen, in denen professionelle Journalisten Fakten recherchieren und Zusammenhänge einordnen. So weit, so gut. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Die erste nüchterne Erkenntnis lautet nämlich, dass vor allem am Anfang eines dynamischen Geschehens oder Konflikts selbst Profis oft der Überblick fehlt, was gerade "wirklich"
geschieht. Unter dem Druck, schnell irgendetwas berichten zu müssen, sind Fehler dann fast unvermeidbar. Korrespondenten vor Ort sind eigentlich gerade in Krisen unverzichtbar,
aber sie können derzeit kaum aus eigener Anschauung aus dem Kampfgebiet berichten. Vor allem brauchen sie für ihre Arbeit Zeit, die man ihnen nicht immer lässt. In unübersichtlichen Situationen
haben sie oft zunächst sogar weniger Überblick über das Geschehen als die Heimatredaktion. Seriöse Journalisten müssen deshalb gerade in Kriegszeiten offen einräumen, dass sie viele Dingen nicht wissen.
Die zweite nüchterne Erkenntnis lautet, dass politische Akteure selbst in friedlichen Zeiten aus verschiedenen Gründen ungern von sich aus
die ganze Wahrheit über einen Sachverhalt preisgeben. Für Kriegszeiten gilt dies um so mehr. Man darf getrost davon ausgehen, dass im Krieg selbstverständlich alle beteiligten
Parteien für sie unangenehme Fakten verschweigen und - mehr noch - lügen, dass sich die Balken biegen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist dafür ein Paradebeispiel. Russische Medien berichten derzeit fast ausschließlich über die Erfolge des eigenen Militärs, desertierende ukrainische Soldaten
und Untaten der Ukrainer gegen die Zivilbevölkerung im Donbass, da die Verbreitung für die
russische Kriegsführung schädlicher "Falschinformationen" aus nichtoffiziellen Quellen schwere Sanktionen nach sich ziehen kann. Es entsteht so ein drastisches Zerrbild der Wirklichkeit. Dies gilt, wenn auch nicht ganz so
krass, selbst für fast alle nichtstaatlichen Medien. Wer sich aus ukrainischen Medien informiert, erfährt derweil hingegen
praktisch nichts über militärische Verluste der Ukraine, sondern vor allem über gigantische Zahlen getöteter russischer Soldaten und über russische Angriffe auf ukrainische Zivilisten. Allen
handelnden Akteuren und auch vielen Medien in beiden Ländern geht es derzeit vor allem darum, die Moral des eigenen Lagers zu stärken und den Gegner zu demoralisieren.
Offizielle Angaben, die über eigene Misserfolge berichten, stimmen wohl mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit als Berichte über eigene Siege. Wenn ukrainische Behörden im laufenden
Krieg den Verlust einer Stadt an die russischen Besatzer vermelden, glaube ich dem eher, als wenn die russische Seite die siegreiche Übernahme verkündet.
Aufgrund der klaren Ausgangslage im Frühjahr 2022 - Russland ist Angreifer und die Ukraine das Opfer - neigen viele deutsche Medien derzeit
dazu, ungeprüft Informationen der ukrainischen Seite zu verbreiten, was sie mit den Verlautbarungen der russischen Seite richtigerweise niemals tun würden. Als Ergebnis kommt es immer wieder
zu Pannen, etwa bei der breiten Berichterstattung über den angeblichen Heldentod der Verteidiger auf der winzigen Schlangeninsel im Schwarzen
Meer, die tatsächlich nicht getötet wurden, sondern in Gefangenschaft gerieten. Seriöse Journalisten sollten alles
anzweifeln, was ihnen in Kriegszeiten Militärs, Geheimdienste und Politiker erzählen. Berichte, die alle fragwürdigen Behauptungen einer
Konfliktpartei unhinterfragt aufschreiben, sind mit Vorsicht zu genießen.
In der derzeitigen historischen Krise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sind übrigens auch Deutschland und die EU keine neutrale Partei. Äußerungen
ihrer offiziellen Vertreter müssten daher ebenfalls mit einer gewissen Distanz transportiert werden, was längst nicht immer geschieht. So übernahmen zahlreiche Medien unhinterfragt die
Erzählweise, die Sanktionen der EU zielten auf die Machthaber in Moskau und die Wirtschaftselite und sollten die russische Bevölkerung "weitgehend verschonen". Diese Schutzbehauptung hält nicht einmal
der einfachsten Plausibilitätsprüfung stand, denn selbstverständlich können Sanktionen, die eine Volkswirtschaft ruinieren sollen, nicht gleichzeitig die normale Bevölkerung verschonen. (Das
selbe gilt für Sanktionen, die familiäre Kontakte und Reisen über Grenzen hinweg unmöglich machen! Und hier spreche ich aktuell aus fürchterlich schmerzhafter Erfahrung.) Berichte, die sich nicht
die Mühe machen, das Narrativ der eigenen Regierung zu hinterfragen, sind daher mit größerer Vorsicht zu genießen.
Worte sind eine wichtige Waffe, gerade in Krisen- und Kriegszeiten. Deshalb ist es für alle Kriegsparteien so wichtig, sie zu
kontrollieren. In Russland hat die staatliche Medienaufsicht russischen Massenmedien nach dem Angriff auf die Ukraine untersagt, das Geschehen als "Krieg" zu
bezeichnen. Nach offizieller Lesart handelt es sich um eine "militärische Spezialoperation", ein absurder Euphemismus, dessen Verwendung in Russland unter Androhung harter Strafen
durchgesetzt wird und den am Anfang des Krieges sogar zahlreiche deutsche Medien ohne Gänsefüßchen übernommen hatten. Wenn russische Medien den Krieg nicht Krieg nennen, so tun sie dies
nicht unbedingt aus innerer Überzeugung, sondern, um totaler Zensur und einem Komplettverbot zu entgehen. Und dem (wenig später abgeschalteten) Radiosender "Echo Moskaus" gelang es immerhin
noch, sich über die Vorgaben lustig zu machen, in dem in grotesker Überdrehung der Wirklichkeit von einer "Wohltätigkeits-Spezialoperation" geredet wurde. Auch im Kampf
um die Deutungshoheit der Ereignisse in der Ukraine 2014 spielten Worte schon eine entscheidende Rolle. In der Ukraine und auch im Westen scheuten sich viele Medien damals vor dem Begriff
"Bürgerkrieg", denn seine Verwendung hätte das Eingeständnis bedeutet, dass die neue prowestliche Kiewer Führung mit dem Militär auch gegen die eigene Bevölkerung vorging. Seriöse
Journalisten sollten sich sehr genau bewusst machen, ob sie mit ihrer Wortwahl ungerechtfertigt das Narrativ einer Konfliktpartei übernehmen.
Bilder sind eine noch wichtigere Waffe in Kriegs- und Krisenzeiten als Worte. Deshalb bemühen sich Regierungen, genau zu kontrollieren, welche Bilder in die Öffentlichkeit gelangen. In
Kriegs- und Krisenzeiten verbreiten sich aber auch gefälschte oder aus dem Zusammenhang gerissene Bilder und Videos lawinenartig. Seriöse Medien dürfen nicht einfach irgendwelche Bilder
und Videos als Beleg für ihre Berichte verwenden. Große Medienhäuser betreiben inzwischen einen erheblichen Aufwand, um Fake von Fakten zu trennen. Trotzdem gelangen immer wieder auch Bilder
anderer Konflikte oder Katastrophen als Belege für den derzeitigen Ukraine-Krieg in die Medien. Für soziale Netzwerke gilt dies in unermesslich größerem Ausmaß,
denn Hunderttausende teilen derzeit unüberlegt alles, was ihnen zum Thema unter die Finger kommt. Manche, denen ich auf Twitter folge, retweeten derzeit von morgens bis abends ununterbrochen Fundstücke aus dem Netz. Wenn sie alle diese
Fotos und Videos auf Echtheit geprüft hätten, könnten sie gewiss nebenbei keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen.
Die wichtigste Regel für eine seriöse Berichterstattung ist aber nach wie vor, sich von den Fakten und nicht von der eigenen Sicht auf die Welt leiten zu
lassen. Denn Letzteres ist im besten Fall Aktivismus und im schlimmsten Fall ein Verrat an den Aufgaben der Presse, denn irgendwann werden Journalisten zu Soldaten im
Informationskrieg, was weiß Gott nicht ihre Aufgabe ist. Medien können den Tag zur Nacht erklären, wenn sie es darauf anlegen. Und sie müssen dafür noch nicht einmal
lügen. Sie brauchen lediglich alle unpassenden Informationen auslassen oder zur winzigen Randnotiz einschrumpfen und die "richtigen" Experten und O-Ton-Geber zitieren. Leider gibt
es auch in eigentlich seriösen Medien Journalisten, die so arbeiten. Bis zu einem gewissen Grad habe ich sogar Verständnis dafür, denn auch ich kenne die Situation, als Journalist an einem
vermeintlich wichtigen Thema zu recherchieren, das plötzlich zerfällt, weil die Fakten nicht mehr zu meiner ursprünglichen These passen. Auch Journalisten dürfen eine Meinung
haben. Aber nie darf man mutwillig Fakten frisieren, damit sie die eigene Meinung bestätigen.
Dennoch gibt es Medien, die diese Form von Journalismus systematisch betreiben. In Deutschland steht in diesem Zusammenhang oft die "Bild" im Zentrum der Kritik, die ich noch immer für eine echte Gefahr für unsere Demokratie (und den Frieden) halte. Die aktuelle Debatte dreht sich seit einigen Jahren allerdings stärker um "alternative Medien" und ganz besonders die deutschsprachigen Angebote russischer Staatsmedien wie "RT De" bzw. "RT deutsch". Nach meiner festen Überzeugung hätte RT in Deutschland in bestimmten Kreisen nie eine solche Popularität erlangt, wäre der Sender nicht von Anfang an übertrieben dämonisiert worden. Die Kampagnen von RT sind in aller Regel keine geniale Desinformation, sondern sehr plump und für jemanden, der die Position der russischen Führung zu einem Sachverhalt kennt, in aller Regel vor allem eins: Ermüdend. Ich habe Zweifel, dass das von der EU betriebene Verbot sinnvoll ist, weil es wie schon im Fall der Deutschen Welle erneut Gegenmaßnahmen geben dürfte. Viel mehr als das weitere Schicksal des russischen Staatssenders interessiert mich derzeit allerdings die Zukunft der verbliebenen mutigen Medien in Russland, die verfolgt werden, weil sie den Krieg Krieg nennen und versuchen, so gut, wie es noch geht, irgendwie ihre Arbeit zu machen.
Wie also soll man sich nun informieren über das Geschehen, insbesondere jetzt, an einem historischen Wendepunkt für Europa? Meine Empfehlung wäre: Achtet beim Lesen von Online-Medien
und Zeitungen oder beim Fernsehschauen ein wenig darauf, wie ernst es die jeweiligen Autorinnen und Autoren mit den oben skizzierten Grundsätzen meinen. Es gibt so viele, die
unter extrem schwierigen Bedingungen gerade einen sehr guten Job machen. Verzeiht Fehler, die eingeräumt und transparent korrigiert
werden. Und sucht möglichst jeden Tag ruhig auch bewusst eine Lektüre, die nicht in allem eurem eigenen Weltbild
entspricht. So kann man tatsächlich ein Gefühl dafür bekommen, welche Quellen sich lohnen, um zu verstehen, wohin die Welt getrieben
wird.
Das klingt kompliziert, und es ist kompliziert. Ich selbst lese in diesen fürchterlichen Tagen in jeder freien Minute Berichte deutscher, russischer, ukrainischer und englischsprachiger
Medien. Und manchmal scheint mir spät in der Nacht, dass ich kaum schlauer geworden bin.
P.S: In den kommenden Tagen werde ich sicherlich auch meine Link-Sammlung mit Quellen zu Russland, in der es bislang vor allem um touristische Aspekte ging, noch einmal gründlich
überarbeiten. Solange die Welt bis dahin nicht untergeht.
kp, aufgeschrieben am 1.3.2022