"Würdest du gleich einmal von mir getrennt, lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt;

ich will dir folgen durch Wälder und Meer, Eisen und Kerker und feindliches Heer."

 

 Simon Dach (1605-1659), deutscher Dichter aus Memel, in "Ännchen von Tharau" 

 

 

Odyssee 2024 von Kiel bis Kairo: Ostsee - Wolga - Nil

Reisebericht Kiel, Klaipėda, Palanga, Sowjetsk, Kaliningrad, Moskau, Nischni Nowgorod, Wladimir, Kairo, Giza, Athen

Sommerurlaub ist vermutlich das falsche Wort, um unsere mehr als dreiwöchige Reise im Juli und August 2024 durch den Osten zu beschreiben. "Odyssee" trifft es besser. Vom Party-Hotspot des Baltikums und einem vom Eisernen Vorhang zerschnittenen Naturwunder an der Ostsee führte der Weg zu russischen Freunden und Verwandten, bis zum Moskauer Kreml und an die breite, träge dahinströmende Wolga - mit vier Flügen, einer Fährpassage, mit Eisenbahn, Linienbus, Taxi und einem Fußmarsch über die Grenze. Wie in den Vorjahren zwangen uns die Realitäten des neuen Kalten Krieges groteske Umwege auf - dieses Mal bis nach Afrika. Dennoch gilt: Auch in der aktuell schwierigen Situation sind Besuche in Russland grundsätzlich weiter möglich, wenn man bereit ist, einige sanktionsbedingte Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen.

Bogoljubowo Russland
Sommernachmittag 200 Kilometer östlich von Moskau

Unsere Route:

Niemals zuvor hat mich die Vorbereitung einer Russlandreise so viel Zeit gekostet wie für den Sommer 2024. Das lag insbesondere daran, dass für vier Familienmitglieder vier völlig unterschiedliche Routen geplant werden müssen. Unterschiedliche Staatsbürgerschaften, Flugangst bei Teilen der Reisegruppe und verschiedene Urlaubszeiten machen das nötig. Irgendwann steht der Entschluss, vor den Besuch in Russland einige Tage Strandurlaub an der Ostsee mit unserem Sohn zu legen, der nicht mit nach Moskau kommen würde.

Boeing der russischen Airline Nordwind in Kaliningrad Chrabrowo
Ein Nordwind-Jet vor dem Start von Kaliningrad nach Moskau

Vor allem die Suche nach weiterhin passierbaren Wegen und bezahlbaren Tickets für den Reiseabschnitt danach kostet einige Wochen Zeit. Für Flüge zwischen Deutschland und Russland hatte sich bei den beiden jüngsten Reisen im Sommer 2023 und im Winter 2024 bereits die Türkei als Transitland bewährt, doch für die Wochen der russischen und deutschen Sommerferien gibt es dieses Mal trotz tagelanger Tüfteleien keinen einzigen Flug zu akzeptablen Preisen. Da die einschlägigen Internet-Foren zudem erneut voller Horrorberichte über teilweise tagelange (!) Wartezeiten an den westlichen Landgrenzen Russlands sind und selbst Linienbusgesellschaften warnen, die Reisedauer könne nicht abgeschätzt werden, suche ich nach ausgefalleneren Wegen...:

 

...und werde fündig: Zum einen lese ich von einem angeblich kaum genutzten Grenzübergang zwischen Litauen und dem Gebiet Kaliningrad über den Memel-Fluss, der nur noch für Fußgänger geöffnet ist. Und dann entdeckte ich ein Sonderangebot von "Egypt Air" für die Strecke Moskau-Kairo und einen ebenfalls verfügbaren Spartarif der griechischen "Aegean Airlines " für die Strecke Kairo-Athen-Deutschland. So fällt der naheliegende Entschluss, die Sommerreise nach Russland mit einer Kurzvisite in Ägypten abzurunden.

Da der Aufenthalt in Russland auf weniger als 16 Tage beschränkt ist, genügt auch für diese Fahrt das relativ einfach erhältliche russische E-Visum, das bequem am heimischen Schreibtisch beantragt werden kann. Nach Antragstellung vergehen erneut exakt vier Tage, bis eine Email aus Moskau mir bestätigt, dass das Visum genehmigt worden sei. Das Visum für Ägypten ist noch einfacher erhältlich - ein Aufkleber für den Reisepass, der im Flughafen vor der Passkontrolle verkauft wird - Stempel drauf, fertig.


Über die Ostsee

An Bord der DFDS-Fähre Kiel-Klaipeda
Auf der Ostsee

Bereits bei einem Baltikum-Urlaub vor zwei Jahren war ich zu der Überzeugung gekommen, dass die Ostsee-Fähren eine gute Wahl sind, um in östliche Richtung aufzubrechen. Dieses Mal haben wir eine Kabine für die Fähre von Kiel ins litauische Klaipeda, das ehemals deutsche Memel, gebucht. Das Schiff legt planmäßig so spät abends in Kiel ab, dass die Anreise per Bahn von jedem Ort in Deutschland aus am selben Tag bequem möglich ist. Bevor wir an Bord der "Aura Seaways" gehen dürfen, hat sich die Reederei DFDS allerdings ein maximal kompliziertes Prozedere ausgedacht. Die zahlreichen Passagiere ohne Fahrzeug müssen eine gefühlte Ewigkeit in einem viel zu kleinen Hafenterminal mit nur wenigen Sitzen ausharren, ehe sie mit Kleinbussen direkt in den Bauch des riesigen Schiffes gefahren werden.

Während das Schiff aus der Kieler Förder hinausgleitet, im dunklen offenen Meer verschwindet und die Lichter der schleswig-holsteinischen Küste hinter sich lässt, können wir uns bei einem späten Abendessen gleich noch von der vorzüglichen Qualität des Selbstbedienungsrestaurants an Bord überzeugen. Bislang war ich nach einer ganzen Reihe von Fährüberfahrten der Ansicht, die Linien zwischen Finnland und Schweden seien gewissermaßen der "Goldstandard" des Fährverkehrs. Allerdings kommt die erst vor wenigen Jahren in China gebaute "Aura Seaways" der Kiel-Klaipeda-Route diesem Standard schon sehr nahe. Bei bestem Sommerwetter ist die rund 20-stündige Fahrt im Nu vorüber. Hatten wir zum Frühstück noch die dänische Insel Bornholm passiert, kommt am frühen Abend bereits die baltische Küste in Sicht. Die letzten Kilometer entlang endloser Hafenanlagen von Klaipeda sind noch einmal besonders eindrucksvoll. 

Leider dürfen wir aber nach dem Anlegen zunächst nicht von Bord gehen. Erst, als fast alle Pkws und Lastwagen die Fähre längst verlassen haben und es draußen schon dunkel ist, kommen wieder zwei Kleinbusse in den Laderaum gefahren und chauffieren uns zum Hafenterminal - die gleiche, Nerven zehrende Prozedur wie in Kiel. 

 

Taxis stehen am Fährterminal keine. Mit Mühe schaffen wir es, telefonisch einen Wagen zu organisieren. Während wir auf das Auto warten, informiere ich die Reisegruppe noch einmal über die wesentlichen Benimmregeln im Baltikum: 1. Nicht einfach ungefragt auf Russisch losplaudern und 2. bloß nichts Positives über die sowjetische Zeit äußern. Ausgerechnet unser Taxifahrer, ein älterer Mann, pfeift allerdings auf diese elementaren Vorschriften: In fließendem Russisch schimpft er während der gesamten Fahrt über die Politik seines Landes und die EU. Obwohl er sein Leben lang auf einem großen Hochseefischereischiff geschuftet und zwischen Polarmeer und Westafrika Dorsche und Tintenfische aus dem Ozean geholt habe, bekomme er jetzt nur eine Rente von 240 Euro. Einst habe man den Leuten einen Lebensstandard wie in der Schweiz versprochen, nun müsse er allein für seine Stromrechnung 70 Euro im Monat zahlen. Für einen entspannten Lebensabend habe er kein Geld und fahre deshalb notgedrungen Taxi.


Palanga

Sommerabend an der Seebrücke von Palanga in Litauen
Abendstimmung an der Seebrücke von Palanga

Unser Ziel für die erste Woche der Sommerreise ist der Ferienort Palanga, rund 30 Kilometer nördlich von Klaipeda. Hier haben wir eine Ferienwohnung gebucht. Kurz vor dem Ziel passieren wir im Taxi den längst eingemeindeten Vorort Nemirseta. Bis zum ersten Weltkrieg verlief genau hier die deutsch-russische Grenze, die nördlichste Ortschaft Ostpreußens trug damals noch den Namen Nimmersatt, und deutsche Schulkinder lernten den Spruch: "Nimmersatt - wo das Reich sein Ende hat."

Palanga dürfte in Deutschland den Wenigsten ein Begriff sein. Dabei ist das nicht irgendein Ferienort. Die Kleinstadt ist der Ferienort Litauens. In den Sommermonaten kommen zu den gut 15.000 ständigen Einwohnern unzählige Urlauber, so dass sich dann wohl tagtäglich über 100.000 Menschen in dem Ort drängeln. Tagsüber am Strand und abends in der langen Fußgängerzone hat es den Anschein, als sei jetzt im Juli die komplette Bevölkerung der Baltenrepublik hier versammelt. Nicht viel anders geht es im 15 Kilometer nördlich, kurz vor der lettischen Grenze gelegenen Vorort Šventoji zu, wie wir uns vergewissern können. 

 

Wer Schießbuden, Riesenräder, wildes Nachtleben und Karaoke-Partys liebt, wird Palanga lieben. Vor allem Abends. Aus allen Lokalen entlang der Basanavičiaus-Straße klingt dann laute litauische Live-Popmusik. Wer das nicht mag, kann Asyl in einer Bar suchen, die zum "Piano-Abend" einlädt. An einem durchsichtigen Flügel, der von innen in wechselnden Neon-Farben leuchtet, sitzt dort ein etwas verloren wirkender Mann im weißen Anzug und spielt verträumt "Für Elise".

All das ist freilich nur die eine Seite von Palanga. Es gibt noch eine andere, phantastische: Da ist der womöglich großartigste Sandstrand der Ostseeküste, da sind die spektakulären Abende, an denen eine glühend rote Sonnenscheibe westlich der Seebrücke ins Meer kippt. Da ist das Aroma der Kiefernwälder, die Ort und Strand voneinander trennen. Da sind zahlreiche hölzerne Villen, die Stadtbrände und Kriege überstanden und sich gegen alle Bausünden der Sowjetzeit und der jüngeren Vergangenheit behauptet haben. Zu unserem Lieblingsort wird allerdings neben den Dünen an der Ostsee der riesige Schlosspark rund um den Palast der polnischen Adelsdynastie Tyszkiewicz (Tiškevičius). Einst gehörte der Familie praktisch ganz Palanga, und sie hatte einen großen Anteil auf Aufstieg des verschlafenen Örtchens zum Kurort. Das Schloss selbst beherbergt heute ein großes Bernsteinmuseum.

Beim Aufenthalt in der Stadt fällt auf, dass nur wenige Ausländer hier Urlaub machen. Litauer bleiben weitgehend unter sich, gelegentlich hört man Russisch auf der Straße, ganz selten skandinavische Sprachen. Unsere liebenswerte Vermieterin, eine ehemalige Französisch-Lehrerin im Ruhestand, erzählt mit Bedauern, früher habe sie viele Gäste aus Kaliningrad, dem russischen Kernland oder Weißrussland bei sich untergebracht, die seit 2022 nun alle ausblieben.


Nida / Nidden

Kurische Nehrung zwischen Nida und russischer Grenze
Blick über die Dünen südlich von Nida bis nach Russland

Unbedingt wollten wir während des Litauen-Aufenthalts die Kurische Nehrung besuchen, jene langgestreckte Landzunge, die das Kurische Haff von der offenen Ostsee trennt und wegen ihrer einzigartigen Dünenlandschaften zum Unesco-Weltnaturerbe zählt. Unsere Hoffnung, in Palanga würden Tagesausflüge dorthin angeboten, zerschlägt sich: trotz Zehntausender Feriengäste gibt es keine Ausflugsbüros mehr vor Ort. Also nehmen wir den Linienbus, um wenigstens einen Höhepunkt der Nehrung, die romantische Künstlerkolonie Nida (Nidden) wiederzusehen. Die Fahrt dahin mit Umstieg in Klaipeda und Fährpassage über den Memel-Fluss dauert fast drei Stunden.

Nida ist das ziemliche Gegenteil von Palanga, ein verträumtes, stilles Örtchen, in dem selbst im Hochsommer nur eine überschaubare Zahl von Gästen unterwegs ist. Da die Entfernungen zwischen den Nehrungsdörfern groß sind, haben sich viele Besucher Fahrräder gemietet. Die Zahl der verfügbaren Unterkünfte im Ort ist sehr begrenzt, und vermutlich waren alle Zimmer schon Monate im Voraus ausgebucht. Daher war es leider in unserem Fall keine Alternative, hier unterzukommen.

Auf den ersten Blick hat sich trotz aller historischen Verwerfungen und der wechselnden Landesherren gar nicht so viel verändert, seit der große Thomas Mann sich hier für seine Nobelpreis-Prämie von 1929 sein reetgedecktes Sommerhaus bauen ließ. Neben dem obligatorischen Besuch im einstigen Feriendomizil der Manns (das nach schweren Kriegsschäden in den 1950er Jahren schon abgerissen werden sollte) und einem Bummel durch den Ort, steht auf unserem Programm eine kurze Wanderung durch Kiefernwälder hoch zum Leuchtturm von Nida und weiter bis zu den großen Dünen südlich des Ortes - dorthin, wo Litauen endet.

Die an manchen Stellen nur wenige hundert Meter breite Kurische Nehrung ist 100 Kilometer lang und gehörte ursprünglich komplett zur deutschen Provinz Ostpreußen. Der nördliche Teil wurde nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Memelland von Litauen annektiert, heute verläuft direkt südlich von Nida durch die wunderschöne Dünenlandschaft die Staatsgrenze zum russischen Gebiet Kaliningrad. Der einstige Grenzübergang, den wir 2011 noch für einen Tagesausflug nutzen konnten, wurde auf litauische Initiative hin geschlossen. Den Wegweiser nach Kaliningrad am Ortsrand von Nida tauschten die Behörden inzwischen gegen ein Sackgassen-Warnschild aus.


Klaipėda / Memel

Denkmal für das Ännchen von Tharau in Klaipeda / Memel
Das Ännchen von Tharau steht wieder auf dem Theaterplatz

Für die Rückfahrt von der Kurischen Nehrung wählen wir die reguläre Fährverbindung von Nida nach Klaipeda. Ein eigentümliches kleines Motorboot, das trotz seines Aussehens eine ansehnliche Geschwindigkeit erreicht, bringt uns in weniger als zwei Stunden in die Hafenstadt zurück. Dort verbinden wir den Fußmarsch zum Busbahnhof mit einer Blitz-Stadtbesichtigung. 

Klaipeda, das ehemals deutsche Memel, ist keine übermäßig attraktive Stadt. Riesige Industriegebiete, Hafenanlagen und Plattenbauviertel prägen die Stadt. Es gibt zwar ein kleines historisches Zentrum mit einigen Straßenzügen aus Altbauten und gepflasterten Straßen, aber selbst deren Charme hält sich in Grenzen.

Das gleiche gilt für den zentralen Theaterplatz mit seinem berühmten Simon-Dach-Brunnen. Der erinnert seit der Wende wieder an den ostpreußischen Dichter Simon Dach - und die von ihm im 17. Jahrhundert besungene Tharauer Pfarrerstochter Anna Neander. Tatsächlich hat sich just in dem Moment, in dem wir hier stehenbleiben, eine deutsche Reisegruppe vor dem Brunnen aufgestellt und stimmt das bekannteste Volkslied aus Ostpreußen an:
"Ännchen von Tharau ist´s, die mir gefällt, sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld..."


Sowjetsk / Tilsit

Советск

Königin-Luise-Brücke über die Memel bei Tilsit/Sowjetsk
Die Königin-Luise-Brücke verbindet heute Litauen und Russland

Nach einer Woche an der Ostseeküste steht uns nun die unangenehmste Etappe der Reise bevor: Der Grenzübertritt von der EU nach Russland. Wir verabschieden uns von unserem Sohn und dessen Freundin, die noch einige Tage in Litauen bleiben werden. Mit dem Linienbus geht es für uns nach Klaipeda, von dort mit einem kleinen Dieseltriebwagen der litauischen Eisenbahn bis nach 

Šilutė, das einstige Heydekrug. Hier steigen wir für die letzten 45 Kilometer bis zum Grenzort Panemunė (Übermemel) in ein Taxi.

Die historische Königin-Luise-Brücke über den Memelfluss bei Sowjetsk, dem früheren Tilsit, mit ihrem imposanten Barockportal gilt gewissermaßen als Geheimtipp. Der einst wichtige Grenzübergang an der Fernstraße von Riga nach Kaliningrad ist seit Jahren wegen Baufälligkeit für den Fahrzeugverkehr geschlossen, eine wenige Kilometer flussaufwärts gebaute neue, grenzüberschreitende Brücke wurde nie eröffnet. Wer einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, so ist in den einschlägigen Social-Media-Kanälen nachzulesen, könne hier relativ einfach und ohne stunden- oder gar tagelange Wartezeiten die Grenze passieren.

Auf diese Auskünfte vertrauend steigen wir auf litauischer Seite bei Nieselregen direkt an den Fahrzeugsperren vor dem geschlossenen Auto-Grenzübergang aus dem Taxi. Rechts von der Fahrbahn führt ein Fußweg zu einem Metalltor, vor dem fünf Menschen stehen. Die Hoffnung, dass alles jetzt sehr schnell gehen würde, trügt. Der einzige vor Ort tätige litauische Zöllner filzt bei ausnahmslos allen Reisenden akribisch das komplette Gepäck, begutachtet Unterhosen und den Inhalt des Kulturbeutels. Dann lässt er sich die Geldbörsen öffnen und zählt das mitgeführte Bargeld nach. Während wir warten, kommt noch eine Frau in die Schlange, der auf der anderen Straßenseite die Einreise nach Litauen verwehrt worden war. Bereits seit 2022 gilt ein generelles Einreiseverbot für russische Staatsbürger nach Litauen - mit sehr wenigen Ausnahmen. Nur Personen mit Aufenthaltserlaubnis für einen der EU-Staaten oder doppelter Staatsbürgerschaft dürfen die Grenze überhaupt noch passieren. 

Nach einer halben Stunde haben wir den litauischen Zoll hinter uns und überqueren die Memel - hinter uns ein litauischer Hochspannungsmast mit einer riesigen Ukraine-Flagge, vor uns am russischen Ufer ein Haus mit montiertem Riesen-Z in den Farben des Georgsbandes, dem Symbol des russischen Feldzuges. Auf der russischen Seite werden wir bereits vor der Passkontrolle von Soldaten mit Spürhund in Empfang genommen und müssen die Koffer öffnen. 50 Meter weiter findet dann die eigentliche Zollkontrolle auf offener Straße statt, während der Regen immer stärker wird. Hier sorgt für Unmut, dass wir zwei ungeöffnete Packungen mit Kopfschmerztabletten mitführen - ohne Quittung der Apotheke. Nach anfänglicher Drohung, man könne die Tabletten jetzt zur Expertise ins Labor geben und uns so lange am Grenzübergang festhalten, lässt die Zöllnerin schließlich Milde walten. Fragen zur Reiseroute oder gar zu politischen Themen werden mir nicht gestellt.

Etwas über eine Stunde dauert der auf beiden Seiten an DDR-Kontrollen erinnernde Grenzübertritt letztlich. Dann sind wir in Sowjetsk, das seinem düster-kommunistischen Namen an diesem Nachmittag alle Ehre macht. Unglücklicherweise gibt es in der Stadt sonntags keine einzige Möglichkeit, legal Rubel zu tauschen. Passanten versichern, direkt am Grenzübergang würden vertrauenswürdige "Valutschiki" herumstehen - Männer, die schwarz auf der Straße wechseln. Aber die haben offenbar allesamt vor dem Regen kapituliert. Wir laufen zu Fuß zum Busbahnhof und unsere Rubel reichen gerade noch für zwei Fahrkarten nach Kaliningrad und einen Teller Suppe am Bahnhofskiosk. Unterwegs sehen wir im Zentrum einige architektonische Spuren des alten deutschen Tilsit, aber das Wetter lädt nicht zum Stadtbummel ein.


Kaliningrad / Königsberg

Калининград

Grabmal des Philosophen Immanuel Kant am Königsberger Dom in Kaliningrad
Abends am Grab von Immanuel Kant

Innerhalb von weniger als einem halben Jahr sind wir nun schon zum zweiten Mal in Kaliningrad. Weil im Vorfeld nicht genau abschätzbar war, wie lange wir für die Strecke brauchen würden, habe ich zur Sicherheit ein Hotelzimmer für eine Nacht reserviert. Von Deutschland aus geht das zwar nicht mehr über die bekannten Portale wie booking.com, aber dank der russischen Buchungsmaschine Ostrovok gibt es eine durchaus brauchbare Alternative. Mit dem großartigen georgischen Restaurant Satschmeli (Webseite nur Russisch) am zentralen Siegesplatz haben wir inzwischen einen Lieblingsort, den wir schon bald nach der Ankunft aufsuchen.

Die Freude am leckeren Abendessen wird ein wenig durch die Nachrichten unserer Tochter getrübt. Die hat sich parallel von Deutschland aus auf den Weg zur Großmutter nach Moskau gemacht, doch ihre Maschine ist in Frankfurt mit so großer Verspätung gestartet, dass es sie in Ankara den Anschlussflug zu verpassen droht.

Letztlich endet aber alles gut: Weil die halbe Ankara-Maschine mit Transitreisenden Richtung Russland besetzt ist, wartet der Anschlussflug.

Jetzt im Sommer ist das einstige Königsberg voller Touristen aus dem russischen Kernland. Die Kneiphof-Insel mit dem dramatisch beleuchteten Königsberger Dom ist selbst spät abends noch enorm belebt. Es herrscht eine lockere, fröhliche Stimmung. Nicht nur der Dom, sondern auch viele andere Gebäude sind eindrucksvoll angestrahlt, darunter sowjetischen Plattenbauten am Lenin-Prospekt, die als Teil umfangreicher Stadtverschönerungsmaßnahmen zur Fußball-WM 2018 pseudohanseatische Fassaden erhalten hatten. Viele Besucher flanieren auch noch am Ufer des Pregels entlang und werfen einen Blick auf das Grab von Immanuel Kant. Der deutsche Philosoph spielt für das Selbstbild und die Vermarktung der russischen Stadt inzwischen eine riesige Rolle. Kant-T-Shirts, Kant-Statuen, Kant-Kühlschrankmagnete - überall blickt der Königsberger Denker auf die Besucher von Kaliningrad. 

Am folgenden Morgen bleibt nach dem Frühstück noch etwas Zeit für Erkundungen. Unser Weg führt zu einem Bauwerk, dass ich bei vergangenen Besuchen zwar einige Male aus der Ferne gesehen hatte, aber nie näher bestaunen konnte - zur ehemaligen evangelischen Kreuzkirche. Der wuchtige Bau mit zwei wuchtigen Zwillingstürmen und einem gewaltigen Kreuz aus Majolika-Klinkern auf der Frontseite wurde zwischen 1930 und 1933 erbaut und ist nach dem Dom eines der beeindruckendsten Überbleibsel der Königsberger Vorkriegsarchitektur. Den Krieg hatte die Kirche kaum zerstört überstanden, jedoch war sie von den Sowjets zu einer Fabrik für Fischerei-Zubehör zweckentfremdet worden. Inzwischen wird sie vom orthodoxen Bistum genutzt. Der Kontrast zwischen den tristen Wohnblocks der Umgebung und dem älteren, seinerzeit zukunftsweisenden Sakralbau ist beeindruckend.

Dann heißt es für uns. vorübergehend Abschied zu nehmen. Meine Liebste steigt in den Bernstein-Express, einen der wenigen verbliebenen Korridorzüge der Russischen Bahn, die Kaliningrad mit dem Mutterland verbinden, und der sie in rund 20 Stunden durch Litauen und Weißrussland bis nach Moskau bringen wird. Ausländer dürfen dort aktuell nicht mitfahren. Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, ehe ich zum Flughafen Chrabrowo aufbreche. Im Stadtbus auf der Fahrt dorthin lerne ich zwei erschöpfte russische Frauen kennen, die ebenfalls in

Deutschland leben, mit ihren Töchtern auf dem mühseligen Weg zu ihren Eltern sind und gerade anstrengende Nachtfahrten durch Polen hinter sich haben. Wie wichtig Kaliningrad mittlerweile als Ferienziel und Transitpunkt für "Sanktionsopfer" wie uns ist, wird in der völlig überfüllten Abflughalle deutlich: Die Maschinen nach Moskau starten jetzt in den Sommerferien nahezu im 15-Minuten-Takt.


Moskau

Москва

Roter Platz in Moskau
Immer ein Erlebnis: Bummel über den Roten Platz

Auf dem schwiegermütterlichen Anwesen bei Moskau können wir erfolgreiche Familienzusammenführung feiern: Unsere Tochter ist über die Türkei eingeflogen, ich komme planmäßig aus Kaliningrad, und meine Liebste am nächsten Vormittag pünktlich mit dem Zug. Aber es gibt viel zu tun im teils verwilderten Garten und im Haus. Noch dazu ist der Motor ausgefallen, der das Häuschen mit Trinkwasser aus dem eigenen Tiefbrunnen versorgt. Bis Handwerker Erlösung bringen, heißt es, schwere Eimer vom öffentlichen Brunnen zu schleppen, den es in der Straße immerhin noch gibt. 

Und doch haben wir auch noch Zeit, Freunde und Weggefährten aus alten Zeiten wiederzusehen und mit ihnen über Gott und die Welt zu reden (Politik und Krieg bleiben dabei oft Tabu). Annas Cousine hat wieder Ballett-Karten organisiert. Den stärksten Eindruck hinterlässt jedoch ein alter Studienkamerad aus der Moskauer Staatsuniversität. Der schlägt vor, wir könnten zur Feier unseres Wiedersehens nach vielen Jahren einmal ein Motorboot mieten und damit zum Kreml fahren. Das so etwas möglich ist, noch dazu ohne Bootsführerschein, halte ich für vollkommen undenkbar. Immerhin ist auf der Moskwa viel Schiffsverkehr und man ist mitten in einer Weltstadt. Ich vermute, Max - so heißt der Studienfreund - will sich ein wenig lustig machen. Als er einen Treffpunkt weit draußen im Südosten der Stadt bestimmt, überlege ich kurz, ob es dort vielleicht noch einen anderen Kreml gibt.

Aber dann sitzen wir mit ihm, seiner Frau und der wundervollen neunjährigen Tochter der beiden tatsächlich in einem kleinen Motorboot, mein Kumpel dreht den Motor auf, und wir jagen den Fluss hinauf Richtung Stadtzentrum - vorbei an riesigen Neubauvierteln, Schnellstraßen und dem Sonnenuntergang hinterher. Auf der Höhe des Gartenrings biegen wir in den Wasserumleitungskanal ein, der sich durch den Stadtteil Samoskworetschje windet - diese Route ist vorgeschrieben - und erreichen am monströsen Denkmal für Peter den Großen wieder die Moskwa, wo wir an Christerlöser-Kathedrale und Kremltürmen vorbei die Ausflugsboote überholen, von ihrem Wellengang mächtig durchgerüttelt werden und nach gut anderthalb Stunden schwer beeindruckt wieder am Bootsverleih (Webseite nur Russisch) ankommen. 

Es gibt Momente, in denen man als Besucher die großartige Weltstadt Moskau ganz unbeschwert genießen kann, erst recht, wenn man weiß, wie es hier in den chaotischen 1990er Jahren zuging.
Und dann gibt es immer wieder Details, die deutlich machen, dass wir eben doch keine normalen Zeiten mehr haben: Da ist beispielsweise die Freilichtausstellung großformatiger Hochglanzfotos von der russischen "Sonderoperation" im Donbass, denen sich kein Spaziergänger auf dem sommerlichen Boulevardring entziehen kann. Da sind die omnipräsenten Werbeplakate, die mit immer höheren Prämien um Freiwillige für den Kriegseinsatz buhlen. Oder der Umstand, dass alle Flaggen der feindseligen westlichen Staaten aus dem Straßenbild verschwunden sind. Stattdessen werden an den Fahnenstangen nun allenthalben die Fahnen von Partnerländern wie China, Indien oder Südafrika gehisst. Nicht von ungefähr hatte der Moskauer Oberbürgermeister den Europa-Platz am Kiewer Bahnhof erst kurz vor unserer Reise in "Eurasien-Platz" umbenennen lassen. Da sind die grauen Busse der Bereitschaftspolizei, dezent an allen neuralgischen Punkten platziert, um bei Bedarf sofort einsatzbereit zu sein. Und da sind erstaunlich viele Menschen, die mit einem Seufzer einräumen, sie wünschten sich nichts mehr, als dass der Krieg ein Ende nehme, die darunter leiden, dass Verwandte und einstige Freunde in der Ukraine alle Kontakte abgebrochen haben. 


Nischni Nowgorod

Нижний Новгород

Nischni Nowgorod an der Wolga
Blick auf das Zentrum von Nischni Nowgorod

Zum ersten Mal seit 2022 wollen wir wieder zumindest eine kurze Reise weg von Moskau zu unternehmen. Unsere Wahl fällt recht spontan auf Nischni Nowgorod, die geschichtsträchtige Handelsmetropole an der Wolga - mit über 1,2 Millionen Einwohnern aktuell die sechstgrößte Stadt der Russischen Föderation. In Nischni Nowgorod, das zu Sowjetzeiten zu Ehren des Schriftstellers Maxim Gorki dessen Namen trug, war ich ab 1995 mehrfach, meist aus dienstlichem Anlass und immer bei lausigem, kalt-trübem Wetter. Trotz der grandiosen Lage am Zusammenfluss von Oka und Wolga erschien mir das industrielle Zentrum der mittleren Wolgaregion unerhört trist, als wäre Nischni Nowgorod noch immer das sowjetische Gorki, wohin die Staatsführung den missliebigen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow in die Verbannung geschickt hatte.

Mit Gruseln erzähle ich manchmal die Geschichte, wie wir einst beim ersten Besuch einen halben Tag lang hier herumirrten, weil die Hotels entweder keine Ausländer oder keine unverheirateten Paare aufnehmen wollten. Inzwischen zählt die Millionenstadt zu denjenigen Orten in Russland, die eine besonders spektakuläre Wandlung hinter sich haben: Ebenso wie in Kaliningrad ließ die Staatsmacht vor der Fußball-WM Rubel in Strömen auf das Provinzzentrum herabregnen: Historische Altbauten sind vorbildlich saniert, die Hauptstraße im Zentrum wurde zur Fußgängerzone. Eine spektakuläre, 3,5 Kilometer lange Luftseilbahn über die Wolga verbindet Nischni Nowgorod mit der Stadt Bor am gegenüberliegenden Flussufer.

Wir nehmen den Premium-Nachtzug aus Moskau, der für die 440 Kilometer stolze acht Stunden benötigt - gerade solange, dass die Passagiere auch ein wenig ausschlafen können. Gut ausgeruht beginnen wir die Stadterkundungen mit dem Kreml von Nischni Nowgorod - der wohl größten Befestigungsanlage aller russischen Städte. Für einen Ort in der osteuropäischen Tiefebene ist das Zentrum erstaunlich hügelig. Die Altstadt liegt zu einem kleinen Teil direkt am Fluss und zum größeren rund 100 Höhenmeter oberhalb auf dem hohen und zerfurchten rechten Wolga-Ufer. Die pompöse Treppe von der Uferpromenade hinauf zum Denkmal für den legendären sowjetischen Testpiloten und Atlantik-Überflieger Valeri Tschkalow zählt an die 500 Stufen. 

Abends wollen wir ins Kulturleben der Wolgametropole eintauchen und buchen im Internet zwei Karten für ein Theaterfestival, das die Stücke russischer Klassiker an ungewöhnlichen Orten zur Aufführung bringt. Unsere Vorstellung - eine Episode aus Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" findet auf dem Eisenbahngelände im Industrievorort Sormowo statt - vor der Kulisse eines verrottenden Lokschuppens. Sogar eine rumpelnde und fauchende Rangierlok wird in die Handlung eingewoben. Die Idee ist nicht schlecht. Aber es fängt an zu regnen, und spätestens, als alle im Publikum anfangen, ihre Regenschirme aufzuspannen, ist nichts mehr vom Theaterspiel zu sehen.


Wladimir und Bogoljubowo

Владимир и Боголюбово

Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Nerl
Die "russischste" aller alten russischen Kirchen

Für die Rückfahrt nach Moskau nehmen wir eine Tagesverbindung, die wir allerdings auf halber Strecke in Wladimir unterbrechen. Obwohl die Gebietshauptstadt Teil der zu Sowjetzeiten etablierten touristischen Route altrussischer Städte "Goldener Ring" ist, macht sie einen recht ramponierten Eindruck. Wladimir schwimmt nicht im Geld, hier dominieren bröckelnde Fassaden und Schlaglöcher noch immer große Teile des Stadtbildes.

Allerdings gibt es hier einige der bedeutendsten Baudenkmäler des alten Russlands zu bestaunen - aus einer Zeit, als Wladimir nach dem Zerfall des altslawischen Reichs der Kiewer Rus vorübergehend zum wichtigsten Machtzentrum Osteuropas aufstieg. An diese Goldene Ära unter dem Großfürsten Andrej Bogoljubski von Wladimir und Susdal erinnern einige der "Weißen Monumente", die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurden - darunter die prächtige Mariä-Entschlafens-Kathedrale und die Demetrios-Kathedrale mit ihren atemberaubenden Verzierungen. Allein diese Bauten rechtfertigen eine Reise nach Wladimir.

Die meisten Besucher, auch uns, zieht es aber noch zehn Kilometer weiter nach Osten in die Nähe des Dorfes Bogoljubowo. Hier errichtete der Großfürst um 1165 aus Trauer um seinen im Krieg gefallenen Sohn die weltberühmte Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Nerl. Dieser schlanke, hoch aufragende Sandsteinbau, den einst alle nach Wladimir fahrenden Schiffe passierten, gilt vielen Kunsthistorikern als vollkommenste russisch-orthodoxe Kirche überhaupt. Mitten in einer aus der Zeit gefallenen Wiesenlandschaft und fernab der Stadt wirkt sie tatsächlich wie ein Artefakt aus dem Himmel.


Kairo

القاهرة

Grabkomplex al-Mansur Qalawuns in Kairo / Ägypten
Unterwegs im mittelalterlichen Kairo

Als sich unsere Reisegruppe am schwiegermütterlichen Anwesen erneut trennt, sind fast drei Wochen vergangen, seit ich meine Haustür in Rheinland-Pfalz hinter mir geschlossen habe. Anna wird noch einige Tage bei ihrer Mutter bleiben und dann wiederum über Kaliningrad auf dem Landweg zurückreisen. Für mich geht es nun nach Afrika.

Man kann kaum sagen, dass die Zeit im Osten ereignisarm war. Dennoch werden alle Erinnerungen an Russland und das Baltikum dieses Mal nach der Heimkehr mit einer fetten, grellen Farbschicht übermalt sein: Der Rückflug mit Zwischenstopp in Ägypten bringt Tochter und mich in die unwirklichste, absurdeste, widersprüchlichste und anstrengendste Stadt, in der ich jemals gewesen bin.

 

Aber der Reihe nach: Zunächst lassen wir uns im Taxi die 100 Kilometer zum Moskauer Flughafen Domodedowo fahren. Unser Fahrer ist ein gesprächiger Usbeke, der uns erzählt, wie gut ihm das Leben im Moskauer Umland gefällt, und der sich aufrichtig wundert, dass deutsche Töchter selbst entscheiden dürfen, wen sie heiraten wollen. Die Ausreise aus Russland ist eine Sache von Minuten: Keine Warteschlangen, keine Fragen.

Als wir nach 5,5-stündigem, angenehmen Flug mit "Egypt Air" vor dem Flughafen Kairo in einer lärmenden Menschentraube den Fahrer unseres Hotels suchen müssen, ahnen wir, dass wir jetzt in einer ganz anderen Welt gelandet sind. Moumin und sein verbeulter, aber gut klimatisierter Hyundai werden entscheidenden Anteil daran haben, dass wir das Abenteuer Ägypten gut überstehen, denn wir engagieren ihn auch für die kommenden Tage, um uns zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu bringen. Auf der Fahrt über Autobahnen und Hochstraßen, vorbei an unendlichen Siedlungen verstaubter, ungepflegter Hochhäuser macht bereits das Treiben auf der Fahrbahn sprachlos: Da rasen uralte VW-Bullis ohne Beleuchtung über die Piste, Laster mit einem halben Dutzend Passagieren auf der offenen Ladefläche überholen rechts und links, Motorradfahrer sind ausnahmslos ohne Helm und zum Teil gegen die Fahrtrichtung unterwegs. Fußgänger und Eselkarren tauchen natürlich auch immer wieder auf der Autobahn auf. 

Die Region um Kairo, die größte Metropole Afrikas und der arabischen Welt, ist seit Jahrtausenden besiedelt. Wer alle historisch wichtigen Orte in und um Kairo angemessen in Augenschein nehmen will, bräuchte mehrere Wochen dafür. Diese Zeit haben wir nicht. Nur für einige Höhepunkte reicht es: Wir starten die Bekanntschaft mit der Stadt auf der Zitadelle, die unter Sultan Saladin angelegt wurde und ihr heutiges Aussehen maßgeblich dem im 19. Jahrhundert über Ägypten herrschenden osmanischen Statthalter Mehmed Ali Pascha verdankt. Wir laufen barfuß durch den Innenhof der weit über 1.000 Jahr alten Ibn-Tulun-Moschee und machen nach ausführlicher Sicherheits-Kontrolle eine Stippvisite ins christliche Viertel von Alt-Kairo. Hier bilden einige Häuserblöcke ein einmaliges Ensemble uralter Kirchen und Klöster - darunter die berühmte Hängende Kirche und die Abu-Serga-Kirche aus dem 4. Jahrhundert, die sich genau an der Stelle befinden soll, an der die Heilige Familie mit dem Jesuskind nach ihrer Flucht aus Bethlehem in einer Höhle Unterschlupf fand. Wenige Schritte weiter steht die 1.000-jährige Ben-Ezra-Synagoge just an dem Ort, an dem der Überlieferung zufolge die Tochter des Pharao Moses als Baby im Körbchen entdeckte.

 

Dann reicht die Zeit noch für einen Bummel durch das historische Basarviertel Khan al Khalili, wo wir uns auf der Suche nach Süßigkeiten verirren. Weil wir an einem Freitagnachmittag unterwegs sind, bleiben allerdings viele Läden geschlossen - In Ägypten ist Freitag der arbeitsfreie Wochentag. Viele Menschen sind auch zum Freitagsgebet in die Moscheen geströmt. Wer es nicht schaffte, hört die Predigten dank voll aufgedrehter Lautsprecher auf allen Straßen.


Giza, Sakkara und Dahshur

الجيزة وسقارة ودهشور

Alabastersphinx von Memphis
Auch in Memphis gibt es eine Sphinx

Unsere Unterkunft für zweieinhalb Tage haben wir jedoch nicht in Kairo gebucht, sondern in der mit vier Millionen Einwohnern deutlich kleineren, westlich des Nils gelegenen Nachbarstadt Giza (Gizeh). Unser privat geführtes Hotel wirbt - zurecht - mit einem unschlagbaren Ausblick auf die drei Hauptpyramiden, die sich in nur wenigen hundert Metern Entfernung befinden. Abends können wir von der Frühstücksterrasse kostenlos die ziemlich kitschige Sound- und Licht-Show verfolgen, für die andere Touristen happige Eintrittspreise zahlen. Die Besitzer des "Solima Pyramid View Hotels" - zwei lustige Brüder - und das restliche Personal kümmern sich mit großem Engagement um die Gäste. Als wir beispielsweise erfahren, dass staatliche Sehenswürdigkeiten in Ägypten nur noch Kartenzahlung erlauben, unsere deutschen Bankkarten aber nicht funktionieren, leiht uns der Chef kurzerhand die Kreditkarte irgendeines Angehörigen aus, mit der wir alles bezahlen können.

Das explosionsartige Wachstum der Stadt Giza hat dazu geführt, dass die weltberühmten Pyramiden mittlerweile von mehreren Seiten an das endlose Häusermeer grenzen. Obwohl das Viertel am einzigen erhaltenen Weltwunder der Antike sehr touristisch ist, wirken die meist unfertigen Bauten in der Mehrzahl unvorstellbar schäbig: Die Straßen hier sind verstaubt vom Wüstensand und voller Müll, es riecht nach Pferden und Dromedaren, die tagsüber die Touristen tragen müssen und abends in den Höfen zwischen den Wohnblöcken angebunden werden. Überall steht Polizei, das Viertel soll sicher sein, heißt es. Allerdings können Ausländer keine zehn Schritte gehen, um von Verkäufern, Kellnern, Geldwechslern oder selbst ernannten Guides angesprochen zu werden. So zu tun, als verstehe man kein Englisch, hilft nicht: Die Händler sprechen auch Russisch, Deutsch, Französisch und viele anderen Sprachen. Mein alter russischer Reiseführer empfiehlt, bei unerwünschter Anmache die arabische Antwort "Vielleicht morgen, so Gott will." Der auswendig gelernte Satz verschafft tatsächlich eine gewisse Leidenslinderung.

Einen Tag lang erkunden wir mit Auto und Fahrer die Hinterlassenschaften der Pharaonenzeit. Nach einem Besuch auf dem Pyramidenfeld von Giza geht es weiter nach Süden zur Nekropole Sakkara mit der Stufenpyramide des Königs Djoser, der um 2.700 vor Christus herrschte und der Menschheit den weltweit ältesten monumentalen Steinbau hinterließ. Weiter geht es zum archäologischen Museumskomplex von Memphis. Dort beeindruckt vor allem die liegende Kolossalstatue des Pharao Ramses II..

 

Danach fahren wir noch ein wenig weiter bis zum Pyramidenfeld von Dahshur. Obwohl Moumin uns warnt, dass es dort eigentlich nicht viel zu sehen gibt, ist das vielleicht das intensivste Erlebnis. Hier stehen mit der Roten Pyramide und der "Knickpyramide" des Königs Snofru, der sich gleich mehrere Grabmäler bauen ließ, zwei Monumentalbauten mitten in der Wüste. Beide sind kaum kleiner als die großen Pyramiden von Giza. Doch während in Giza die Reisegruppen Schlange stehen und das Heer der Souvenirverkäufer und Kameltreiber jeden Besucher in den Wahnsinn treibt, sind wir hier komplett allein. Lediglich ein zweites Auto mit Touristen ist noch vor Ort, sonst gibt es nur Steine, Wüstensand und flimmernde Hitze. So nah wie hier kann ein Mensch der Ewigkeit vermutlich kaum irgendwo kommen.


Athen

Αθήνα

Wachablösung am Syntagma-Platz in Athen
Wachablösung der Evzonen am Grabmal des unbekannten Soldaten

Die letzte Etappe beginnt mit einem vergleichsweise kurzen Flug von Afrika über das Mittelmeer und die griechischen Inseln nach Athen. Hier hätten wir nun eigentlich 4,5 Stunden Aufenthalt, was uns entschieden zu lange erscheint. Und so nehmen wir kurzerhand die U-Bahn und fahren bis ins Zentrum der griechischen Hauptstadt. In Athen bin ich erst einmal zuvor im Leben gewesen. 2016, kurz nach der Griechenlandkrise, erschien mir die Stadt dreckig, laut und in architektonischer Hinsicht als eine einzige Zumutung. Jetzt, nach Kairo, kommen wir uns im Zentrum um den quirligen Monastiraki-Platz vor wie in einer paradiesischen Idylle. Fußgängerampeln und

Preisschilder in den Geschäften erscheinen uns als nahezu unglaublicher Ausdruck der Moderne.

Da wir eine U-Bahn knapp verpasst hatten und der neue Elefterios-Venizelos-Flughafen weit außerhalb von Athen liegt, haben wir eigentlich gar keine Zeit mehr nach der Ankunft im Zentrum. Der geplante gemütliche Bummel wird zum schnellen Marsch an den Ruinen der Hadriansbibliothek vorbei zum Fuß der Akropolis und schließlich zum Syntagma-Platz, wo wir noch eine Wachablösung der berühmten Evzonen-Garde mit ihren drolligen Puschelschuhen verfolgen können. Eine knappe Stunde vor dem Weiterflug sind wir rechtzeitig wieder draußen am Flughafen. Bald sitzen wir zwischen glücklichen Griechenland-Urlaubern und hören zum ersten Mal seit Wochen wieder andere Menschen Deutsch reden. Nun dauert es noch einmal über zweieinhalb Stunden, dann geht unsere Odyssee tatsächlich zuende.


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