Wenn man sich als Deutscher im Ausland aufhält, geht man gewöhnlich davon aus, dass man jederzeit nach Deutschland zurückkehren kann (wenigstens, solange man nichts ausgefressen hat und dafür im Gefängnis sitzt). In meiner Studentenzeit hatten die russischen Behörden zu dem Thema eine andere Ansicht: Keine Ausreise ohne Ausreisevisum. Ein paar Erinnerungen an den bizarrsten Unsinn, dem ich in 11 Jahren in Russland begegnet bin:
Moskau (Dezember 1997/Januar 1998). Man hatte mich gewarnt, dass es Schwierigkeiten geben würde. Ich würde mir zu viel herausnehmen, fürchteten selbst ausländische Studienfreunde. Der ehrgeizige Plan bestand darin, Ende 1997 über Weihnachten und Silvester von Moskau nach Deutschland zu reisen.
Für Westdeutsche, die sich schon immer fragten, was es wohl für DDR-Bürger für ein Gefühl gewesen sein mag, hinter der Mauer zu leben, war ein Auslandsstudium an einer russischen Universität bis vor einigen Jahren eine wirklich lehrreiche Angelegenheit. Wer sich an einer Hochschule der Russischen Föderation einschrieb, der wurde automatisch einer Art Leibeigenschaft unterworfen. Für jede Auslandsreise - und sei es in das eigene Heimatland - war von nun an eine nur schwer erhältliche Ausreiseerlaubnis erforderlich.
Dabei hatte Boris Jelzin den Russen Anfang der 1990-er Jahre endlich erlaubt, frei ins Ausland zu reisen. Eine Errungenschaft, an der sich noch nicht einmal sein Nachfolger Putin vergriff.
Das Gesetz über die "Ein- und Ausreise aus der Russischen Föderation" hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler. Womöglich stand gar kein böser Wille dahinter, und in der Eile war lediglich
vergessen worden, das Gesetz auch auf Ausländer auszudehnen, die dauerhaft in Russland lebten: Ehepartner von Russen, aber eben auch Studenten, benötigten weiterhin ein so genanntes
Ausreisevisum.
Zuständig für die Ausstellung des wertvollen Papiers waren das Akademische Auslandsamt der Hochschule und die Ausländerpolizei OWIR. Und damit begannen die Probleme. Denn in der Lomonossow-Universität weigerten sich die zuständigen Hochschulangestellten schlicht, Anträge für jede Zeit außerhalb der Semesterferien anzunehmen. Die stockernste Begründung: "Ihr sollt hier studieren und nicht durch die Gegend reisen." Einzig bei Todesfällen in der Familie zeigte sich die Universität von ihrer milden Seite und erlaubte die außerplanmäßige Heimreise. Vor den Ferien lagen die Bearbeitungszeiten meist bei etwa vier Wochen.
Wie also vorgehen für den Weihnachtsbesuch, der wegen der unterschiedlichen Weihnachtstermine auch noch teilweise in die Prüfungszeit gefallen wäre? Schnell verwarf ich die Idee, meine
Mutter zu bitten, mir eine fingierte Sterbeurkunde zu schicken. Stattdessen hatte ich einen besseren Gedanken:
"Ich möchte ein Ausreisevisum beantragen, weil ich heiraten will und persönlich Dokumente beim Standesamt beantragen muss." Das war sogar nur zur Hälfte gelogen. Denn wir wollten damals wirklich
gerade heiraten. Die Geschichte, dass dafür ein Haufen von Papieren persönlich beantragt werden musste, stimmte zwar hinten und vorne nicht. Sowohl Universität als auch OWIR kauften sie aber ohne
Nachfrage ab. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass die Bürokratie überall auf der Welt so kafkaeske Züge annimmt wie bei ihnen in den Amtsstuben. Das Visum, ein dreiseitiges Einlegeblatt für
den Reisepass mit vielen Stempeln und Fotos, war zwei Tage später fertig. Und nicht erst nach einem Monat wie gewöhnlich.
Bereits einige Wochen nach der Rückkehr begannen die russischen Semesterferien. Zeit also, um ein neues Ausreisevisum zu beantragen. Doch so einfach wollte es mir die Ausländerpolizei dieses Mal
nicht machen. Nach zwei Wochen kam mein Antrag unbearbeitet zurück. "Kein Wunder", so das Mädchen im Uni-Ausländerbüro, "du warst ja gerade im Ausland." In der Tat, zwei Reisen innerhalb
von zwei Monaten, das war offensichtlich zu viel des Guten.
Zum Glück hatten, wie eingangs bereits erwähnt, einige gut informierte Studenten bereits gewarnt, dass es Probleme geben würde. Daher konnte ich meine zweite, gut vorbereitete Geschichte auftischen. "Kein Problem, dann bleibe ich eben hier. Aber die Studiengebühren für das nächste Semester kann ich dann leider nicht überweisen. Das muss ich persönlich bei meiner Bank erledigen. Niemand hat die Kontovollmacht." Glücklicherweise war Anfang 1998 das Online-Banking noch nicht sonderlich weit entwickelt, daher klang diese Drohung offensichtlich überzeugend. Das Mädchen, das die Pässe zum OWIR und wieder zurück trug, meinte, das wäre mein Problem, aber ich sollte mal mit ihrem Chef sprechen. Der sagte in etwa das Gleiche. "Das ist dein Problem. Aber du solltest mal mit dem Prorektor sprechen."
Der residierte hoch oben in dem Zuckerbäcker-Stalinturm, dem zentralen Gebäude des Universitäts-Campus, gediegenes Mobiliar, schwere Sessel aus den Fünfzigern. Und er zeigte wirklich so etwas wie
Verständnis. "Wenn du nicht nach Deutschland fahren kannst, dann kannst du nicht zur Bank gehen", meinte er. Ich nickte. "Und dann kannst Du uns ja auch gar kein Geld überweisen." Ich nickte noch
einmal. Da es ums Geld ging, war die Moskauer Staatsuniversität nun plötzlich bereit, die Leibeigenschaft ihrer Studenten ein wenig zu lockern. "Dann müssen wir jetzt eine Ausnahmeerlaubnis
durchsetzen", sagte der Prorektor schließlich. Es ärgerte mich zwar wieder, dass an russischen Universitäten jeder Mitarbeiter sich herausnahm, alle Ausländer grundsätzlich zu duzen. Aber in
diesem Fall war ich noch nicht einmal böse. Schließlich ging es um eine wichtige Sache. Um die Freiheit, letztendlich.
Und so kam es, dass der Prorektor der größten und wichtigsten Universität Russlands hoch oben in seinem Turm einen Stift nahm und einen langen persönlichen Brief an den Direktor der Ausländerpolizei verfasste. Tenor: Das OWIR möge diesem Deutschen doch bitte, bitte, ausnahmsweise ein zweites Ausreisevisum ausstellen. Es sei wirklich sehr, sehr nötig. Zwei Tage später lag das fertige Visum auf meinem Tisch. (Aufgeschrieben 2008)