Versprochen: Beim Schwatz mit Einheimischen in Russland die eine oder andere Redensart aus dem Ärmel zu zaubern, macht immer mächtig Eindruck. Und das ist noch nicht alles: Kaum etwas lässt so tiefe Rückschlüsse auf die Mentalität der Russen zu wie eine Bekanntschaft mit den unzähligen Sprichwörtern und Redewendungen der russischen Sprache. Wie sich herausstellt, lauten Lebensweisheiten bei Deutschen und Russen zuweilen völlig gegensätzlich.
Wer unseren "Crashkurs Russisch lernen in zehn Minuten" bereits erfolgreich absolviert hat, kann hier eine neue Lektion lernen. Aus dem Meer der russischen Lebensweisheiten die besten herauszufischen, war gar nicht so einfach. Hier nun der Versuch, es doch zu tun: Unsere Hitliste der besten zehn:
(Rússkije médlenno saprigájut, no bystro jésdjat.)
Der Klassiker, der als Erklärung für so manche Absonderlichkeit der russischen Geschichte herhalten muss: Zum Beispiel dafür, wieso ausgerechnet ein rückständiges Zarenreich plötzlich im revolutionären Übereifer zum Kommunismus voranstürmte.
(Na njet i sudá njet)
Kaum ein anderes russisches Sprichwort ist so prägnant und lakonisch zugleich. Es lässt sich perfekt in Gespräche einbauen, in denen der Gesprächspartner einen Vorschlag abschließend mit einem "Njet" ablehnt. - Na, dann eben nicht, eine weitere Diskussion wäre sinnlos.
(Nétschewo na sérkala penjátj, kol rósha kriwá.)
Falsche Höflichkeit war noch die große Stärke der Russen. Dennoch raten wir, beim aktiven Gebrauch dieses schönen Sprichworts etwas vorsichtiger zu sein. Nicht, dass doch noch jemand beleidigt ist.
(Njeswány gostj chúshe tatárina.)
Auch dieses Sprichwort hört man naturgemäß nicht überall gern, zumindest nicht in Kasan und anderen Städten der Tataren-Republik. Es erinnert an das "Mongolenjoch" im Mittelalter. Im 21. Jahrhundert haben Russen und ihre tatarischen Nachbarn meist keine Probleme miteinander.
(U semji njánjek ditjá bjes glásu.)
Ein drastisches russisches Sprichwort zeigt, das es buchstäblich ins Auge gehen kann, wenn niemand wirklich die Verantwortung für eine Sache übernimmt. Die deutsche Variante - "Viele Köche verderben den Brei" - kommt weniger martialisch daher.
(Ljúbisch katátjsja, ljubí i sánotschki vasitj.)
Die russische Version von "Ohne Fleiß kein Preis" ist nur eines von vielen Beispielen, wie Sprichwörter unter dem Eindruck des russischen Winters entstehen. Ein Geizhals etwa ist ein Mensch, der dir "nicht einmal Schnee ausleihen würde".
(W tschushój monastyr sa swaím ustáwom nje lesj.)
Neben dem Winter ist auch die Kirche immer wieder Quelle vieler kluger Sprüche. Der vom fremden Kloster eignet sich auch als Mantra für alle Westler, die gerade an der russischen Wirklichkeit verzweifeln und nicht verstehen, warum vieles dort so unlogisch und anders ist.
(Kaków pop, taków i prichód.)
Und noch etwas zum Thema Kirche: Schon im 19. Jahrhundert war diese lakonische Feststellung im zaristischen Russland weithin gebräuchlich: Wer an der Spitze steht, färbt mit seinem Charakter auf die Untergebenen ab. Der Spruch wird überwiegend im negativen Sinne benutzt.
(Schto rússkomu sdórawa, to njémtsu smertj.)
Nein, das sind keine Fake News, dieses russische Sprichwort gibt es tatsächlich. Wir wissen nicht genau, ob es direkt mit schwarzgebranntem Wodka (Samogon) zu tun hat, aber auf jeden Fall ist es Ausdruck davon, dass die Russen echt abgehärtete Kerle sind.
(Rabóta nje wolk - w les nje ubjeshít.)
Von wegen "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen" - dieser Ausdruck urdeutscher Tugenden ist in Russland, freundlich formuliert, nicht ganz unumstritten. Tatsächlich überzeugt die Logik des russischen Contra-Sprichworts. Mein persönlicher Spitzenreiter!
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Olga Storz (Freitag, 13 Dezember 2019 19:11)
In den letzten Jahren spreche ich mehr russisch, als deutsch. Und da ich nicht so viel arbeite, höre ich in der Stadt, wo ich wohne, viel aufmerksamer, was und wie die russisch-sprechende Bevölkerung miteinander kommuniziert. Manchmal sind die merkwürdigsten Wörter zu hören. Ich weiss, nicht ob sie diese nachfolgend frei gewählte Wörter irgendwo aufnehmen. Beispiele: разуй (открой) глаза; вехотка (мочалка); недосуг (некогда); нализались (напились); давеча (недавно); намедни (недавно) und so weiter. Echt жесть! wenn das jemand übersetzen soll.
Larissa (Freitag, 30 Oktober 2020 10:19)
Sehr schöne Webseite, großen Dank an die Betreiber!
Ich erlaube mir jedoch einen Einspruch zum Eintrag 6 :),
und zwar bedeutet "без глазу" hier im Kontext nicht wörtlich "ohne Auge", sondern
без глазу = без присмотра
Somit wäre die richtige Übersetzung diese hier:
Bei sieben Kindermädchen ist das Kind ohne Aufsicht ( oder nicht beaufsichtigt)
P.S. Sowas brutales kommt nur im Grimmschen Märchen vor ;)
Karsten (Samstag, 14 November 2020 23:12)
Vielen Dank, Larissa. Möglicherweise hast Du recht. Es ist aber nicht so ganz eindeutig:
Siehe z.B.. http://uknigi.ru/frazeologia/u_semi_njanek_ditja_bez_glazu.html
Joe (Sonntag, 21 März 2021 14:57)
Klasse Sammlung - kann man immer mal gebrauchen ;-)
Lidia (Mittwoch, 28 Dezember 2022 22:23)
Larisa hat Recht.
Man sagt auch auf russisch: Тут нужен глаз да глаз.(о необходимости постоянного присмотра за кем-либо. За детьми нужен глаз да глаз.) Ständige Aufsicht ist notwendig.