"Die Hüfte der Gitarre umarmst Du mit Verlangen
Der Ton der neuen Saiten wird lange nicht verwehn
Der Himmel scheint zu wanken, mit Sternen ausgehangen
Wie gut, dass wir nach all der Zeit uns heute wiedersehn."
Oleg Mitjajew, russischer Liedermacher (geb. 1956), in "Wie gut", deutsche Nachdichtung Frank Viehweg
Auch 2023 haben wir uns auf den Weg nach Russland gemacht. Trotzdem. Trotz aller Schwierigkeiten stand ein Besuch bei Freunden und Verwandtschaft in Moskau und Umgebung an. Seit der Ukraine-Krieg im Februar 2022 eskalierte, sind fast anderthalb Jahre vergangen, und durch die westlichen Sanktionen wurden seither nahezu alle Verbindungen zwischen Ost und West abgerissen, Reisen nach Russland sind eine kostspielige Angelegenheit geworden - und eine logistische Herausforderung. Mit längeren Zwischenstopps auf dem Weg dorthin in der Türkei und auf der Heimreise über Estland wurde die Odyssee halbwegs erträglich.
Bei der Reiseplanung für einen Besuch in Russland in Zeiten von Krieg und Sanktionskrieg muss jedermann sich die Frage stellen, ob er mit sehr viel Geld für einen Flug über ein Nicht-EU-Land oder mit sehr viel Zeit und Nerven für die Anreise auf dem Landweg zahlen will. Ein in unserem Fall ausschlaggebendes Argument gegen eine direkte Einreise von EU-Gebiet waren die zahlreichen Berichte über zunehmende Willkür bei der Auslegung der Sanktionen durch die Zollbeamten der osteuropäischen EU-Staaten. So ist beispielsweise die Mitnahme von Euro-Bargeld bis auf ein absolutes, jedoch nicht näher festgelegtes Minimum verboten - was sehr problematisch ist, weil bekanntlich auch alle westlichen EC-, Maestro- und Kreditkarten in Russland seit 2022 nicht mehr funktionieren.
Irgendwann reifte der Plan, auf der Hinfahrt den Weg über die Türkei zu nehmen und auf dem Rückweg mit dem Bus nach Estland auszureisen. Lange hatte ich darauf gehofft, dass ich noch vom Start der E-Visa profitieren könnte, letztlich haben wir ihn mit unseren Reisedaten aber um wenige Tage verpasst. Das nötige Touristenvisum zur Einreise ließ ich über den üblichen Visumdienst besorgen, es wurde dann wie gewohnt problemlos vom Generalkonsulat in Frankfurt am Main ausgestellt - wohl zum letzten Mal, denn auf Anordnung der Bundesregierung müssen bis Ende 2023 vier der sechs russischen Vertretungen in Deutschland schließen.
Die erste Etappe unserer Reise nach Russland beginnt mit zweistündiger Verspätung. Lange müssen wir auf dem Frankfurter Flughafen mit den anderen Passagieren im Flugzeug ausharren und
auf die Starterlaubnis warten. Wegen Personalmangels kann das Gepäck aus dem Flugzeug nicht entladen werden, unsere eigenen Koffer stehen derweil auf dem Rollfeld herum. Bis
zur Rückkehr nach Deutschland zwei Wochen später bleibt dies allerdings die größte Verzögerung auf der Reise. Spätestens beim grandiosen Landeanflug auf Istanbul über das Marmarameer
ist das Chaos in der deutschen Heimat vergessen.
Istanbul ist zweifellos eine der großartigsten Metropolen der Welt, vielleicht sogar die großartigste von allen. Die 15-Millionen-Einwohner-Stadt am Bosporus begeistert mit ihrer Lage an
der Grenze der Kontinente. Das einstige Byzanz und spätere Konstantinopel war im Verlauf vieler Jahrhunderte Zentrum der zivilisierten Welt, überall zeugen davon die Wunder der antiken und der
osmanischen Baumeister. Allerlei feinste Leckereien auf Schritt und Tritt machen einen Aufenthalt hier zu einer andauernden Versuchung. Zehn Jahre lang war ich nicht mehr in der Türkei, seither
hat sich ungemein viel getan in der Stadt: Moderne Metro-Linien durchziehen beide Stadthälften, ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus verbindet Europa und Asien, und gleich an mehreren
Stellen wachsen gigantische Hochhausviertel in den Himmel.
Unsere Unterkunft für zwei Nächte liegt auf der asiatischen Seite der Stadt nicht weit vom Fähranleger Kadiköy entfernt, in einem Viertel, dass nicht ganz so von Touristen überlaufen ist wie das
alte Stadtzentrum von Konstantinopel auf der gegenüberliegenden Seite des Bosporus. Hier legen noch immer alle paar Minuten herrlich altmodische Fährschiffe ab, die zwischen den
Kontinenten pendeln. Eine Fahrkarte für die 20-minütige Passage kostet nur wenige Cent. Bereits vom Frühstücksraum unseres Hotels genießen wir eine großartige Aussicht. Der
spektakuläre Blick von Asien hinüber zur Hagia Sophia und zur Sultan-Ahmed-Moschee ist eigentlich unbezahlbar.
Da wir alle "Must-See"-Sehenswürdigkeiten in Istanbul schon von früheren Besuchen kennen, lassen wir uns einfach nur durch die Straßen treiben, bestaunen die osmanischen Moscheen mit ihren
grandiosen Kuppeln, die wagemutigen Möwen, die Hartnäckigkeit einiger Händler und das Verkehrschaos in den engen Altstadtgassen.
Überall im Basarviertel werde ich - warum auch immer - auf Russisch begrüßt. Das ist anfangs ganz lustig, aber nur solange, bis ein Verkäufer versucht, mich mit dem Spruch "У
нас тоже есть большие размеры!" ("Wir haben auch Übergrößen!") in seinen Laden zu locken. So genial und großartig Istanbul auch auf den
Besucher wirkt - die Stadt hat einen Nachteil. Sie ist wirklich sehr voll. Ob ich dauerhaft zwischen all dem Gewusel dort leben könnte, wage ich dann doch zu bezweifeln.
Nach zwei Tagen am Bosporus setzen wir unsere Reise fort und düsen im Hochgeschwindigkeitszug YHT (Yüksek Hızlı Tren) der türkischen Staatsbahn in die 500 Kilometer entfernte Hauptstadt
Ankara. Von dort gab es nämlich die deutlich günstigeren Flugtickets nach Moskau. Die eingesetzten Züge beschleunigen auf dem Weg durch das Anatolische Hochland bis auf 250 km/h und
gleichen bis auf einige Details den deutschen ICE, verkehren aber meistens pünktlich, Fahrkarten sind spottbillig.
In Ankara endet die Fahrt in dem riesigen, viel zu großen Bahnhofspalast. Überhaupt ist hier alles irgendwie etwas überdimensioniert: Unser Hotel für eine Nacht ist zwar nur 300 Meter Luftlinie
vom Bahnhof entfernt, aber es dauert eine Dreiviertelstunde, bis wir uns im Gewirr der Schnellstraßen, Fußgängerunterführungen und U-Bahn-Tunnel zurechtgefunden haben. Trotzdem und trotz
der über fünf Millionen Einwohner wirkt Ankara deutlich beschaulicher als das bis zum Gehtnichtmehr wuselige Istanbul.
Ausländische Touristen sind hier kaum zu sehen, in angenehmem Kontrast zu Istanbul gibt es hier keine aufdringlichen Versuche, uns in Läden oder Lokale zu locken. An etwas
mehr als einem halben Tag schaffen wir es, die beiden wesentlichen Attraktionen Ankaras zu besuchen: Zunächst besichtigen wir das großartige "Museum der Anatolischen Zivilisationen", in
dem Zeugnisse der Hattier, Hethiter, Phrygier und anderer längst untergegangener Völker zu bestaunen sind. Faszinierende Keilschrifttafeln, steinerne Reliefs und Götterfiguren aus den
wichtigsten Ausgrabungsstätten der Türkei zählen zu den Schätzen des Museums. Dann machen wir uns auf zum Atatürk-Mausoleum, wo wir bei sengender Hitze die martialische Wachablösung
erleben und uns mit einigen Atatürk-Devotionalien eindecken können.
Am Abend geht es erneut mit Pegasus in riesigem Bogen westlich um die Ukraine herum über Mitteleuropa dann schließlich nach Russland.
Nach Mitternacht landen wir auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo, wo noch ziemlich viel Betrieb herrscht. An der Passkontrolle gilt es zunächst, sich ans Ende einer langen Schlange einzureihen,
denn zeitgleich mit unserer Maschine sind mehrere andere Urlaubsflieger gelandet. Dabei haben wir noch Glück, denn an den folgenden Tagen muss der Flughafen wegen ukrainischer
Drohnenattacken mehrfach für mehrere Stunden gesperrt werden. Eine nicht direkt freundliche Grenzerin erkundigt sich nach meinem Reisezweck, die einsilbige Auskunft "Sommerurlaub"
reicht ihr allerdings, um den Pass zu stempeln und die Schranke zum Ausgang zu öffnen. Für mich ist es der zweite Besuch
im Land seit dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Am Ausgang werden wir bereits erwartet und fahren über die fast leeren Schnellstraßen nach Moskau. Schon nach wenigen Minuten fallen die unzähligen großformatigen Werbeplakate der
russischen Armee am Straßenrand ins Auge. Mit stattlichem Monatssold, einer Einmalzahlung von umgerechnet stolzen 6.000 Euro bei Vertragsunterzeichnung und Sonderpämien für
abgeschossene westliche Militärtechnik werben die Streitkräfte sehr offensiv um Freiwillige, die das "Vaterland verteidigen" wollen. Die Anzeigen sind
überall, auch in Vorortzügen und in der U-Bahn. Das war vor einem Jahr noch ganz anders, damals hatte es den Anschein, als wollten die Behörden die Hauptstädter vergessen machen, dass ihr Land
gerade einen fürchterlichen Krieg führt. Dass viele Moskowiter sich auf Armee-Werbeversuche einlassen, wage ich zu bezweifeln. Ob die Strategie, möglichst viele Freiwillige an die Front zu
schicken, um möglichst wenige Männer in den Krieg zu zwingen, in wirtschaftlich abgehängten Gegenden des Landes eher verfängt, steht aber auf einem anderen Blatt.
Davon abgesehen, verläuft das Leben in Moskau und dem Moskauer Umland auf den ersten Blick weiterhin geradezu unwirklich normal. Die Menschen gehen ihren alltäglichen Erledigungen nach, Läden sind voll mit allen erdenklichen Waren, Cafés und Restaurants voller Gäste. Selbst am Wohnort unserer Babuschka am Rand des Moskauer Verwaltungsgebietes gibt es in den Supermärkten alles, was das Herz begehrt - vom Pfälzer Wein bis zum Lübecker Marzipan. Die Autohäuser westlicher Marken sind allerdings größtenteils von chinesischen Herstellern übernommen worden. Auch auf den Straßen fallen die vielen Autos made in China auf.
Dass der vom Westen gegen Russland gestartete Wirtschaftskrieg nicht so verläuft, wie von den Verantwortlichen geplant, war schon
vor einem Jahr absehbar. Zum Symbol der gescheiterten Hoffnungen, das Land schnell wirtschaftlich in die Knie zwingen zu können, war bereits damals die Schnellimbisskette "McDonald's"
geworden. Die Filialen tauschten einfach ihre Firmenschilder aus und servieren seither unter der neuen Marke "Wkusno i totschka" ("Lecker und Punkt") das gleiche zweifelhafte Essen wie
vorher - wovon auch wir uns bei einem Besuch kurz vor der Heimreise überzeugen können.
Kurios ist das Angebot der Kinos. Die zeigen offenbar Hollywood-Produktionen (wenn sie wie "Barbie" nicht aus irgendwelchen ideologischen Gründen aussortiert wurden) inzwischen oft einfach
als Raubkopie ohne Erlaubnis der westlichen Produzenten. Das Kino nahe der Babuschka im provinziellen Solnetschnogorsk etwa hat Anfang August 2023 bereits einen Gruselfilm im
Programm, der erst Ende 2023 in die deutschen Kinos kommen soll.
Aber all diese Eindrücke vom funktionierenden Leben trotz immenser westlicher Sanktionen bekommen Risse, wenn man an der Oberfläche kratzt. Viele Moskowiter vermissen
Freunde und Bekannte, die wegen des Krieges und der immer härteren Repressalien gegen jede Form von offener Regierungskritik ins Exil gegangen sind. Manche machen sich Sorgen, womit alles
noch enden wird. Ein deutscher Freund und Langzeit-Expat klagt, so viele Landsleute seien seit Kriegsbeginn zurück in den Westen gezogen, dass er sich mittlerweile vorkomme "wie
Robinson". Oft ist auch ein gewisser Wehmut zu hören, dass wegen rigider Visaregeln und der europäischen Einreiseverbote keine Reisen nach Westeuropa mehr möglich sind.
Die meisten haben für sich beschlossen, dass sie persönlich am Gang der Geschichte nicht viel ändern können, hoffen auf ein irgendwie akzeptables, baldiges Ende des Krieges und haben
sich vorerst ins Private zurückgezogen. Auch am Küchentisch geht es nur noch selten um Politik und die Ukraine, und stattdessen viel um Kinder und die Gemüseernte.
Übrigens: Zu keinem Zeitpunkt spüren wir in der Öffentlichkeit eine irgendwie feindselige Stimmung gegenüber westeuropäischen Ausländern.
Eigentlich waren Familie und Freunde das Ziel unserer Russland-Reise, kein Tourismus wie in vergangenen Jahren. Obwohl das Moskauer Stadtzentrum nur eine Stunde Fahrtzeit entfernt ist, fahre ich nur für einen einzigen Tag dorthin - Wir haben eine Einladung ins Ballett zu "Schwanensee" - eine sehr klassische Inszenierung zu Tschaikowskis genialer Musik. Sehr passend angesichts des Umstandes, dass das Ballett vom Sowjetfernsehen einst in besonderen Krisensituationen gesendet wurde, wenn man das reguläre Programm unterbrechen musste - etwa nach dem Tod von Parteichef Leonid Breschnjew oder während des gescheiterten Putschversuchs der kommunistischen Hardliner 1991.
Vor dem Ballettabend verbringen wir noch einen Nachmittag auf dem Gelände der ehemaligen sowjetischen
Volkswirtschaftsausstellung WDNCh. Deren riesiges Areal war in den 1990er-Jahren ziemlich heruntergekommen - schließlich gab es niemanden mehr, der mit den Errungenschaften der sowjetischen
Planwirtschaft prahlen wollte. Inzwischen sieht es hier wieder aus, wie sich die Planer das wohl einst ausgemalt haben. Alle Gebäude sind saniert, die Springbrunnen sprudeln und Tausende
Spaziergänger sind hier mit Kindern, Enkeln oder auch alleine unterwegs. Erstaunlicherweise nutzen auch einige ehemalige Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Aserbaidschan oder Usbekistan ihre
alten Pavillons wieder, um für das eigene Land zu werben.
Bei einer kleinen abendlichen Runde vom Theater zum Roten Platz fällt dann aber auch auf, wie exotisch unsere Anwesenheit hier
ist. Nicht einmal im Herzen Moskaus zwischen Basiliuskathedrale und Kremlmauer, nicht einmal hier an der mutmaßlich bedeutendsten Touristenattraktion Russlands, sind irgendwelche
westlichen Ausländer auszumachen. Zwischen zahlreichen Einheimischen und russischen Touristen macht lediglich eine Gruppe von Chinesen Selfies vor den dramatisch angestrahlten
Kreml-Türmen.
Eine echte Überraschung wird mein Besuch bei guten Bekannten aus alten Zeiten, die nach jahrelangem Leidensweg mit Baufirmen und Banken endlich eine Neubauwohnung in einem komplett
neuen Stadtviertel westlich der Hauptstadt beziehen konnten (Schlüsselübergabe war just am 24. Februar 2022, was die Freude des deutsch-russischen Paares doch arg schmälerte). Ich erwarte
eines jener seelenlosen Hochhaus-Ghettos, wie sie überall ins Moskauer Umland hineinwuchern. Tatsächlich erreiche ich eine attraktive Siedlung mit individuell gestalteten, bunten
Mehrfamilienhäusern und breiten Boulevards. Umgeben von Wäldern wirkt das ganze ein wenig wie die Trabantenstadt bei "Asterix und Obelix", aber architektonisch macht das
Viertel wirklich Eindruck.
Schließlich befinden Freunde, dass sie uns doch ein wenig durch das Land fahren müssen, damit wir nicht der Moskauer Umland-Tristesse verfallen. Was als Übernachtungsausflug zum
Schaschlick-Grillen von unserer zu ihrer rund 100 Kilometer entfernten Datsche beginnt, artet zur einer richtigen Reise aus. Als erstes Ziel steuern wir die alte Wolga-Stadt Kaljasin an, die das Pech hatte, dass sie kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs größtenteils in einem Stausee versank. Vom historischen Zentrum sind seither nur
noch wenige Straßenzüge auf einer einstigen Anhöhe erhalten geblieben. Dafür bietet die Kleinstadt eine der kuriosesten Sehenswürdigkeiten der Wolga-Region: unweit des Ufers ragt noch der
Turm der überfluteten Nikolaus-Kathedrale aus dem aufgestauten Fluss. Eine Attraktion ganz jungen Datums ganz in der Nähe ist eine Schneckenfarm, die sich über Besucher freut. Hier
wird uns auch gleich eine Probierportion zubereitet, während wir uns im firmeneigenen Schnecken-Museum umschauen können.
Da das Wetter sich verschlechtert, beschließen unsere Gastgeber, einfach noch weitere 50 Kilometer Richtung Norden die Wolga entlangzufahren - bis ins über 1.000 Jahre alte Uglitsch. Dort war ich zuletzt vor fast zehn Jahren bei einer Fussreise von St.
Petersburg nach Moskau, und auf den ersten Blick hat sich seither kaum etwas geändert. Leider ist auch das Wetter wieder genauso schlecht wie damals, so dass ich erneut keine guten Fotos vom
Uglitscher Kreml mitnehmen kann. Auf der langen Rückfahrt legen wir dann sogar noch einen Zwischenstopp am Dreifaltigkeits-Kloster von Sergijew Possad ein. Eigentlich machen wir seit vielen Jahren einen Bogen darum, denn für einen "heiligen Ort" ist es dort einfach furchtbar überlaufen. Jetzt, an einem
Augustabend kurz vor Sonnenuntergang, erleben wir die "Lawra" zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in einer ganz anderen Stimmung. Als wir spät abends wieder am eigenen Quartier
abgeliefert werden, haben wir für unseren kleinen Ausflug innerhalb von gut 24 Stunden rund 500 Kilometer zurückgelegt - keine Entfernung nach den Maßstäben unserer Freunde.
Die Rückreise nach Deutschland treten wir nach nur neun Tagen vor Ort erneut in mehreren Etappen an. Zunächst reisen wir im Nachtzug nach Sankt Petersburg - in einem der relativ neuen Doppelstock-Schlafwagen, in dem die Fahrt tatsächlich wie im Nu vergeht. Selbstverständlich ist der Nachtexpress
auch pünktlich auf die Minute. In Russlands zweitgrößter Stadt haben wir nun lediglich einen Vormittag Zeit, auf den Spuren vergangener Reisen durch das Zentrum zu schlendern - unser Gepäck verstauen wir
solange am Bahnhof im Schließfach.
Weil wir früh am Morgen bei bestem Wetter ankommen, präsentiert sich St. Petersburg von seiner schönsten Seite. Dieses weltweit einmalige städtebauliche Gesamtkunstwerk mit seinen alten
Bürgerhäusern, prunkvollen Stadtpalästen und stillen Hinterhöfen, den Flüssen und Kanälen hatte ich schon bei meinem ersten Besuch an der Newa im Winter 1994 ins Herz geschlossen. Und
seither hat mich die Begeisterung für diese Stadt nie mehr losgelassen. Auf unserer Wanderung kommen wir an den meisten meiner Lieblingsorte vorbei - der Pferdebändiger-Brücke am Newski-Prospekt, dem Altbau am Fontanka-Fluss, wo wir während der Fußball-WM
2018 Quartier gefunden hatten, der Buchhandlung im phantastischen "Singer-Haus", der Newa-Uferstraße und natürlich an der wunderbaren Sphinxen-Brücke.
Noch mehr als in Moskau fällt in St. Petersburg auf, dass die westlichen Touristen fehlen. Aber für die meisten Westeuropäer ist diese wunderbare, eigentlich doch weltoffene
Metropole wohl für viele Jahre jetzt erst einmal erneut hinter einem Eisernen Vorhang verschwunden.
Seit der Eisenbahn- und Flugverkehr von Russland ins Baltikum eingestellt wurden, bilden Linienbusse die letzte Verbindung in die ehemaligen Sowjetrepubliken an der Ostsee. Allein die Firma Luxexpress bietet bis zu sieben Fahrten zwischen St. Petersburg und Tallinn täglich. Für die Nachmittagsverbindung nach Estland haben wir noch Tickets buchen können. Obwohl nur noch wenig grenzüberschreitender Verkehr stattfindet, sind die sozialen Medien im Sommer 2023 voll von Horrormeldungen über teils tagelange Wartezeiten an der russisch-estnischen Grenze. Glücklicherweise verläuft unsere Fahrt weitgehend störungsfrei. Die Strecke führt uns über den wichtigsten Grenzübergang Iwangorod/Narva, wo sich seit Jahrhunderten an den Ufern des Grenzflusses zwei Burgen gegenüberstehen, und wo es mittlerweile noch eisiger zugeht, als einst an der Grenze zwischen
Bundesrepublik und DDR. Während der Baltikum-Reise im Sommer 2022 hatte ich das martialisch wirkende Panorama mit den Grenzburgen an der neuen Frontlinie quer durch Europa von estnischer Seite aus betrachten können, während ich wartete, ob der Rest der Familie heil und wohlbehalten zu Fuß über die Grenze kommen würde.
Dieses Mal lassen uns am russischen Grenzposten in Iwangorod lustlose Zöllner das Gepäck durch einen Röntgenapparat schieben, aber nur ein Mann muss seinen Koffer öffnen. Im Anschluss warten wir
jedoch noch eine gute Stunde auf einige Passagiere mit ukrainischem Pass, die vom Grenzschutz zu einem Gespräch in einen Nebenraum abgeführt werden, aber letztlich alle wieder in den Bus
zurückkehren. Auf der estnischen Seite in Narva rechnen wir mit scharfen Zollkontrollen - immerhin ist die Liste aller verbotenen Waren aus Russland mittlerweile so lang, dass kaum jemand es
schafft, sie bis zum Ende durchzulesen. Selbst Toilettenpapier oder Zahnpasta aus Russland zum persönlichen Gebrauch hat die EU mittlerweile verboten. Tatsächlich interessiert
sich allerdings niemand für den Inhalt unserer Taschen. Mit EU-Pässen können wir eine automatische Passkontrolle nutzen und haben nicht einmal persönlichen Kontakt zu den Grenzern. Bevor wir
weiterfahren dürfen, müssen wir trotzdem noch eine ganze Weile in einem Warteraum ausharren, in dem Plakate die Reisenden auffordern, sich bei den estnischen Behörden zu melden, wenn
sie während ihres Aufenthalts jenseits der Grenzbrücke von "Geheimdienstlern des feindlichen Staates" kontaktiert wurden.
Tallinn erreichen wir nach achteinhalb Stunden Fahrt mit anderthalbstündiger Verspätung. Das sei im Moment normal, sagt der Fahrer. Die Zeit reicht aber auch so noch für ein
Abendessen im großartigen georgischen Restaurant Tiflis, das wir erst eine Weile suchen müssen, weil es kürzlich umgezogen ist. Am Morgen machen wir noch einen Bummel durch die
wunderschöne Altstadt, klettern hinauf zum Domberg, besuchen die orthodoxe Kathedrale und kaufen ein paar Souvenirs. Dann geht es reicht problemlos mit dem Flieger der polnischen LOT über
Warschau heimwärts nach Frankfurt, wo erneut die Kofferausgabe zum Geduldspiel wird und die Deutsche Bahn uns standesgemäß mit dem obligatorischen Stellwerkausfall begrüßt.
Gallmeister (Montag, 30 Oktober 2023 22:53)
Hinweis auf meine Russlandreise im Oktober 2023:
https://lettlandweit.info/aktuelle-kurzmeldung-bericht-russlandreise/