"Zum letzten Mal besinn dich, alte Welt!
Zum brüderlichen Fest der Friedensfeier,
Zum Fest der Arbeit, das uns friedlich eint,
Ruft der Barbaren Leier!"
Alexander Blok (1880-1921), russischer Dichter, in "Skythen", Übersetzung Heinz Czechowski
Die zweiwöchige Reise in den Osten Anfang 2025 verlief gefühlt ganz anders als die ein Jahr zuvor, es wurde eine unerwartet anstrengende Tour voller Herausforderungen. Der russische Winter war im europäischen Landesteil dieses Mal nahezu komplett ausgefallen. Und nicht nur das Wetter zeigte sich von seiner unfreundlichen Seite. Dabei machten kurz vor der Abfahrt aus Deutschland die Nachrichten sogar noch ein wenig Hoffnung, dass bessere Zeiten anbrechen könnten, weil Russen und Amerikaner zumindest wieder miteinander redeten und ein Ende des Ukraine-Krieges nach drei fürchterlichen Jahren plötzlich nicht mehr ganz unmöglich erschien. In Moskau und St. Petersburg war viel von der Ungewissheit zu spüren, wie alles wohl weitergehen würde. Das selbe galt für meinen Zwischenstopp im schon frühlingshaften Armenien auf der Rückreise. Auch die kleine Kaukasus-Republik am Schnittpunkt von Ost und West sucht gerade mühsam einen Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft.
Direktflüge zwischen Deutschland und der EU waren auch 2025 weiter aufgrund der westlichen Sanktionen ausgesetzt, die Anreise auf dem Landweg über das Baltikum kam für mich erneut wegen der Zustände an den EU-Ostgrenzen nicht infrage. Wer dann auch noch bei einer Reise nach Russland ein wenig auf das Geld achten muss, kommt daher weiterhin kaum an der türkischen Billigfluggesellschaft Pegasus vorbei.
Die hatte für meine Hinreise ein wirklich günstiges Angebot, zwar nicht von Frankfurt nach Moskau, sondern von Hannover nach St. Petersburg. Zwar zu fürchterlichen Zeiten mitten in der Nacht mit
Umstieg am frühen Morgen, aber der Preis war mit unter 200 Euro unschlagbar.
Zurück ging es dann mit einer Kombination aus Aeroflot und Pegasus von Moskau über Jerewan / Eriwan und Istanbul. In Istanbul sollte es dieses Mal auf dem Hin- und Rückweg jeweils nur einen
kurzen Aufenthalt geben, aber es kam etwas anders.
10.000 Flugkilometer und rund 1.000 Kilometer Bahnfahrt fielen dieses Mal insgesamt an. Das alles ist nicht wirklich gut aus Sicht des Klimaschutzes, aber Klimaschutz ist
den Sanktions-Politikern in Berlin und Brüssel vermutlich inzwischen sowieso egal.
Insbesondere die türkischen Airlines profitieren davon. Ohnehin entwickeln sich die Großflughäfen von Istanbul zu den wichtigsten Umsteigeplätzen für Reisende, die zwischen Asien und Europa
unterwegs sind. Der Heimat-Airport von Pegasus, Istanbul-Sabiha Gökçen, hat trotz seiner riesigen Ausmaße Mühe, mit dem Passagierboom Schritt zu halten. Endlose Schlangen
vor den Sicherheits-Checks und fehlende Sitzbänke trüben zusätzlich zu den Mondpreisen der dortigen Gastronomie (Eine Tasse Kaffee 11 Euro) ein wenig den positiven Gesamteindruck der
Millionenmetropole.
Zur Einreise nach Russland hatte ich - mittlerweile zum dritten Mal - ein E-Visum beantragt und problemlos nach Ablauf von exakt vier
Tagen erhalten. Für einen Besuch in Armenien reicht der deutsche Reisepass. Wie sehr solche Reisen momentan von politischen Entwicklungen beeinflusst werden, konnten wir an der
eigenen Geldbörse feststellen: Allein das erste Telefongespräch zwischen Trump und Putin kurz vor meinem Abflug versetzte die Märkte derart in Bewegung, dass der Rubel innerhalb weniger
Tage rund 15 Prozent an Wert gewann - was unsere Fahrt entsprechend verteuerte.
Nach einer schlaflosen Nacht und einigen Stunden auf dem chaotisch-überfüllten Flughafen von Istanbul beginnt der Aufenthalt in Russland eigentlich ganz famos: Die Kontrollen nach
der Ankunft in St. Petersburg im neuen Terminal von Pulkowo sind vollkommen unspektakulär und dauern ebenfalls nur wenige
Minuten. Anna, die schon eine Woche zuvor zu ihrer Mutter in die Nähe von Moskau vorgefahren war, erwartet mich am Ausgang. Bei der Fahrt ins Zentrum, wo wir für zwei Nächte ein
Hotel direkt am Fontanka-Fluss gebucht haben, scheint noch die Sonne. Als wir die Koffer abgestellt haben, um zu einem ersten Stadtbummel aufzubrechen, ziehen dichte Wolken heran.
Blauen Himmel werde ich bis auf diese eine erste Stunde während des gesamten zehntägigen Aufenthalts in Russland nicht mehr zu sehen
bekommen.
Unser Besuchsprogramm für die kommenden 48 Stunden ist eng getaktet: Wir treffen deutsche Freunde aus alten Zeiten, und mit einer guten Freundin unserer rheinland-pfälzischen Freunde sind wir zum Ballettabend verabredet. Vorher wollen wir uns aber noch
stärken und wählen das ulkige Restaurant Buddy (Webseite nur Russisch). Dort zeigt sich die
Experimentierfreude der modernen russischen Gastronomie in voller Blüte. Neben einer Speisekarte mit Gerichten aus der Küche aller Herren Länder gehört zum Konzept des Lokals
auch, den Serviervorgang als Performance zu gestalten. So wurde meine "Lagerfeuer-Fischsuppe" in einem, zwischen zwei Holzpflöcken aufgehängten Metalltöpfchen serviert. Dazu soll ich
mir einen Kopfhörer aufsetzen, über den ich einen Song des Gitarren-Liedermachers Oleg Mitjajew zu hören bekomme.
Ganz klassisch verläuft der Abend im Michailowski-Theater (Webseite Russisch/Englisch), das an diesem
Abend Tschaikowskis Dornröschen vor fast ausgebuchtem Haus spielt - trotz ziemlich heftiger Eintrittspreise. Auffallend ist, wie viele, teils recht junge Kinder im Publikum sitzen,
allesamt fein herausgeputzt und ohne herumzunörgeln. Nach dem Ende der Vorführung laufen wir noch eine ganze Weile durch das nächtliche Stadtzentrum, am Moika-Flüsschen entlang, über den fast menschenleeren riesigen Platz am Winterpalast zum Newski Prospekt und dann immer weiter. Erst um halb zwei in der Nacht, nachdem wir unsere Begleiterin zu Hause abgesetzt haben, fallen
wir hundemüde ins Bett.
Zum ersten Mal nach zahlreichen St. Petersburg-Reisen finden wir auch Zeit für einen Besuch in der Kunstkammer - dem bereits unter Stadtgründer Peter dem Großen als
Kuriositätenkabinett eröffneten Museum, das gerade schrittweise eine umfassende Modernisierung durchläuft und inzwischen vor allem für seine ethnografische Sammlung bekannt ist.
Insbesondere die Exponate aus dem einstigen Russisch-Nordamerika sind durchaus spektakulär: Zu sehen gibt es aus Walgedärm genähte Regenmäntel der Aleuten oder Rüstungen der
Tlingit aus dem Süden von Alaska - des einzigen indigenen Volkes in Nordamerika, das in Panzerung in den Kampf zog.
Zum letzten Mal waren wir 2018 während der Fußball-WM für längere Zeit in St. Petersburg. Damals erlebten
wir gegen Ende der Weißen Nächte eine weltoffene, vor Lebensfreude überschäumende Metropole. Der Vergleich mit ein paar trüben Februar-Tagen ist unfair, aber auch ein Deutscher, der an der Newa
seine Wahlheimat fand, bestätigt unseren Eindruck: Die Stadt sei in den zurückliegenden Jahren wieder ein ganzes Stück zu Leningrad geworden. Die einzigartige
historische Hülle steht weiter da, aber das Weltstädtische, Kosmopolitische ist ohne die ausländischen Touristen und all die Kulturveranstaltungen von internationalem Rang nicht mehr spürbar.
Einen der beiden trüben Vormittage nutzen wir für einen Ausflug in die nähere Umgebung von St. Petersburg. Zu Zarenzeiten gehörte es zum guten Ton, das alle Herrscher des Landes
die Residenzen ihrer Vorgänger mieden und sich neue Paläste bauen ließen. In die Reihe dieser Prachtbauten gehört neben Peterhof und Zarskoje Selo auch das klassizistische Schloss von Pawlowsk, in dem einst Kaiser Paul I. (Pawel I.) mit
seiner Gemahlin Maria Fjodorowna residierte. Die Fahrt dorthin mit einem altmodischen Vorortortzug dauert rund 40 Minuten.
Inmitten eines weitläufigen, noch verschneiten Parkareals
ist das Ensemble im Winter nicht stark besucht, entsprechend groß ist die Hoffnung der grauen Rieseneichhörnchen, dass Besucher sie füttern.
Um den Palast zu besichtigen, müssen wir eine Führung buchen. Eine lustlose Gästebegleiterin spult ihr Lexikon-Wissen über einzelne Räume und Kunstgegenstände herunter. Nur wenig davon
bleibt im Kopf hängen: Etwa, dass es im 19. Jahrhundert Mode war, Gäste durch Pseudo-Schlafzimmer mit wulstig-plüschigen Betten zu führen, die tatsächlich aber nie benutzt wurden. Oder, dass
einige der antiken Marmorfiguren noch immer die Brandspuren des Zweiten Weltkriegs tragen, als die deutschen Besatzer Pawlowsk beim Abzug aus dem zwischenzeitlich eroberten Leningrader
Vorort alles verwüsteten und zerstörten, was die sowjetischen Museumsleute nicht mehr rechtzeitig evakuieren konnten.
Es ist paradox: Aber wer im Jahr 2025 eine Reise mit dem ICE unternehmen möchte und dabei garantiert pünktlich am Ziel ankommen will, muss dafür wohl nach Russland kommen. Für die Weiterfahrt Richtung Moskau wählen wir eine Tagesverbindung mit dem Hochgeschwindigkeitszug "Sapsan" ("Wanderfalke"). Natürlich läuft alles wie am Schnürchen. Genau nach Plan erreichen wir das schwiegermütterliche Häuschen bei Moskau.
In und um die Hauptstadt herum ist bei Temperaturen um die null Grad der Schnee des Winters schon nahezu verschwunden, nur noch einige dreckige Restehaufen liegen an den Straßenrändern.
Wie in den Vorjahren ist auf dem Roten Platz eine Eislaufbahn mit allerlei Rummelattraktionen aufgebaut, in vielen Straßen hängt auch noch die Neujahrsdeko. Und von einigen großflächigen Plakaten zu Ehren der Kriegshelden abgesehen erinnert kaum etwas an das Geschehen in der Ukraine, das die Welt noch immer jederzeit in eine Katastrophe treiben könnte und für Ukrainer und Russen längst zu einer geworden ist.
Auch die Tage in Moskau sind gut verplant mit allerlei Verabredungen und wichtigen familiären Dingen, wobei längst nicht alles so klappt wie erwünscht. Dann hatte ich kurz vor der Reise
noch die Idee, mich in Russland einmal ärztlich untersuchen zu lassen, denn die Wartezeit auf den benötigten Facharzttermin betrug in Mainz exakt ein Jahr. Und das erschien mir doch etwas zu
viel des Guten zu sein. In der Poliklinik der Akademie der Wissenschaften gibt es den Wunscharzt und die nötigen Untersuchungen zu sehr demokratischen Gebührensätzen bereits
nach zwei Tagen. Zwei Ärzte entschuldigen sich sogar förmlich bei mir, als ich einmal 10 Minuten auf ein Ultraschallbild warten muss. Die gute und unkomplizierte Versorgung selbst für
(zahlende) Touristen ist einerseits prima, andererseits verdirbt mir der Befund nun doch gehörig die Laune für den Rest der Reise (und darüber hinaus).
Dann haben wir aber auch Glück, als uns gute Freunde zu einer Feier ins deutsche Wohngebiet einladen. Das Viertel im Südwesten der Stadt - drei umzäunte Hochhäuser mit der Deutschen
Schule - zeigt eindrücklich, wie kaputt die deutsch-russischen Beziehungen momentan sind. Einst waren die teuren Wohnungen dort heiß begehrt, es gab stets eine lange Warteliste von
Geschäftsleuten, Diplomaten, Journalisten und anderen Expats. Jetzt herrscht gähnende Leere: Während die Fenster in den Wohnblöcken der Umgebung am Abend hell erleuchtet sind, schimmert im deutschen Wohnviertel nur in wenigen Apartments Licht,
als wir dort am frühen Abend eintreffen. Der Stimmung auf der Party tut das allerdings keinen Abbruch. Viele Gespräche drehen sich bis tief in
die Nacht um die Hoffnung, dass der Krieg in der Ukraine endlich ein Ende finden könnte. Ein deutsch-russischer Chor singt erst Nina Simones Klassiker "I Wish I Knew How It Would Feel
to Be Free", dann russische Romanzen und schließlich deutsche Fastnachtslieder.
An einem der Nachmittage, an dem es (fälschlicherweise) kurz so aussieht, als könnte die Sonne nennenswerte Löcher in den Wolkenhimmel reißen, unternehmen wir noch einen Ausflug nach
Schachmatowo, zum einstigen Landsitz des Dichters Alexander Blok. Dort sind wir die einzigen Besucher. Die Rückfahrt von dort zum schwiegermütterlichen Anwesen wird zum nervenaufreibenden
Abenteuer. Das georderte Yandex-Taxi meldet wenige Minuten nach der Online-Bestellung, es sei am Abholort angekommen, obwohl es weit und breit nicht zu sehen ist. Die Gebühren für die
Wartezeit laufen und laufen, ohne dass wir den Fahrer in der menschenleeren Umgebung ausmachen können. Letztlich bleibt es ein Rätsel, ob wir auf einen Betrüger hereingefallen sind
oder die russische Drohnen-Abwehr die Satellitennavigation in der Region durcheinander gebracht hat. Beim zweiten Versuch klappt es dann jedenfalls mit einem anderen Taxi.
Nach zehn Tagen in Russland beginne ich die lange Rückreise. Die Ausreiseformalitäten sind wieder in wenigen Minuten erledigt. Und ausgerechnet jetzt, während ich früh morgens auf dem Flughafen
Scheremetjewo darauf warte abzufliegen, kündigt sich draußen der erste schöne Tag seit Langem an.
Auf dem Rückweg will ich dieses Mal in der armenischen Hauptstadt Jerewan (Eriwan) einen längeren Zwischenstopp einlegen. Der Aeroflot-Flug führt dorthin in großem Abstand von
den Kampfgebieten einmal quer über das europäische Russland, ein Stück weit an der Wolga entlang bis zum Kaspischen Meer und dann über die
tief verschneiten Gipfel des Kaukasus-Gebirges. Bei bestem Frühlingswetter landen wir in Armenien.
Für drei Nächte habe ich hier ein günstiges Zimmer in der großartigen Pension der Familie Martirosjan
(Tripadvisor-Eintrag) gebucht, ganz in der Nähe vom Funkhaus des berühmten Armenischen Rundfunks (Eine Frage an "Radio Eriwan" ...). Annusch und Martin sind hervorragende Gastgeber.
Von der sympathischen Unterkunft in einem - von einigen liebeskranken Katzen draußen auf der Straße abgesehen - recht ruhigen Wohnviertel ist es nur ein kurzer Fußmarsch ins Zentrum.
Die beiden hatten ihr Gästehaus eröffnet, als kurz nach der Jahrtausendwende ein Tourismusboom die kleine Kaukasus-Republik erfasste: Damals hatte Armenien mit dem Iran die
Visafreiheit vereinbart. Hunderttausende Iraner strömten daraufhin in das kleine Nachbarland, um zumindest für eine kleine Zeit den strengen Regeln des Mullah-Staates zu entfliehen. Seither habe
sich Jerewan auch zu einem beliebten Treffpunkt für getrennte iranische Familien entwickelt. Viele politische Emigranten trauen sich nicht in ihr Heimatland, und die EU-Staaten vergeben kaum
Besuchsvisa an Iraner. Inzwischen, sagt Martin, machten es auch viele zwischen Ost und West zerrissene Russen den Iranern nach.
Tatsächlich ist Russisch überall in Jerewan zu hören. Die Zahl der russischen Gäste ist bereits jetzt Anfang März enorm, sie brauchen für einen Besuch noch nicht einmal einen Reisepass. Im
Gegensatz zu anderen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion wird die russische Sprache in Armenien auch nicht verteufelt, sondern bleibt weiterhin Pflichtfach an den Schulen. In
der Hauptstadt kann man sich mit ausnahmslos jedem Menschen fließend auf Russisch unterhalten.
Jerewan ist eine der merkwürdigsten Großstädte, die ich bislang gesehen habe. Am Schnittpunkt dreier Großmächte war die Region lange zwischen Türken, Persern und Russen umkämpft. Die Stadt
blickt auf eine Geschichte von mehr als 2.500 Jahren zurück, wurde allerdings unzählige Male durch Kriege oder bei Erdbeben zerstört. Noch zu Zeiten der Oktoberrevolution muss es hier wie
anderswo im Orient ausgesehen haben. Doch davon ist nichts mehr übrig. Sowjetische Stadtplaner entschieden sich in den 1920-er Jahren für einen kompletten Neubau des
Zentrums. Heute prägen beeindruckende Bauten im Stil der Stalin-Ära, viele davon aus rötlichem Tuffstein, das Stadtbild rund um den zentralen Platz der Republik.
Auch in Armeniens Hauptstadt sind vielerorts Spuren des jüngst verlorenen Krieges um Karabach zu sehen: Große Heldenplakate - wie
in Moskau - erinnern an Karabach-Armenier, die von den Aserbaidschanern gefangenen genommen oder getötet wurden. Auf dem Platz vor der Oper haben Aktivisten aus Verzweiflung über den
Verlust der Region den Hungerstreik ausgerufen und campieren in Zelten, um auf das Schicksal Vertriebenen zu erinnern. Im Zentrum sind viele Bettler unterwegs, die erklären, sie seien aus
Karabach. Dennoch herrscht in Jerewan insgesamt keine depressive, sondern eine eher lebensfrohe Stimmung. Viele Leute freuen sich über die warmen Frühlingstage,
spazieren durch die Straßen und bevölkern bis spät abends die Plätze.
Mein erster Weg führt zur Kaskade von Jerewan, einem Treppenkomplex, in dessen Inneren Kunstsalons und Galerien angesiedelt sind - und wo Rolltreppen auf alle warten, denen die knapp 600
Außenstufen etwas zu viel sind. Das obere Ende der Kaskade ist ein beliebter Aussichtspunkt auf den majestätischen Elbrus, der sich zwar schon jenseits der Grenze auf dem Gebiet der
Türkei befindet, aber mit seinen beiden Gipfeln die Hauptstadt überragt. Was Betrachter der vielen spektakulären Fotos und Postkarten nicht ahnen: Nur an wenigen Tagen im Monat ist
die Sicht auf den Ararat wirklich gut, ansonsten sind bestenfalls seine imposanten Umrisse im Dunst auszumachen.
Während ich noch beim Stadtbummel das endlich schöne Wetter genieße und den wenig schönen Arztbrief in meiner Tasche fast vergessen habe, summt plötzlich mein Smartphone.
Die türkische Airline Pegasus teilt mir per SMS mit, dass mein Flug nach Frankfurt ausfalle. Erst abends im Gästehaus erfahre ich auch den Grund: In Deutschland werden am
Tag meiner Rückkehr sämtliche Flughäfen gleichzeitig bestreikt, und für einen Moment fehlt mir die Phantasie, wie ich in vier Tagen morgens pünktlich auf der Arbeit erscheinen soll.
Hotelchef Martin bietet mir an, mit mir einen Ausflug zu unternehmen. Leichter gesagt, als getan - denn während die echten Attraktionen von Jerewan sich in überschaubaren Grenzen halten, gibt es
in der Umgebung der Hauptstadt zahlreiche spektakuläre Sehenswürdigkeiten. Und dann ist da auch noch die offene Frage des Rückflugs. Ich entscheide mich für eine Fahrt nach Süden zu zwei
bemerkenswerten Klosterkomplexen.
Unser erstes Ziel ist das Kloster Chor Wirap in der Ebene des türkisch-armenischen Grenzflusses Arax. Nirgendwo sonst in Armenien kommt man dem Ararat so nahe. Außerdem haben wenige Orte
eine so große Bedeutung für die Armenier wie dieser eher unscheinbare Gebäudekomplex. Auf einer Anhöhe oberhalb des Arax wurde - so lautet die Legende - kein Geringerer als der
Heilige Gregor der Erleuchter auf Befehl des armenischen Königs Trdat III. in ein Verlies geworfen, weil der fromme Mann den heidnischen Götter der Armenier keine Opfer bringen
wollte und stattdessen den Glauben an Jesus Christus predigte.
13 (je nach Version der Heiligen-Vita auch 14 oder 15) Jahre lang soll Gregor in dem Loch ausgeharrt haben. Schließlich heilte er den schwer erkrankten bösen König, was diesen so sehr
beeindruckte, dass er sich und seine Familie taufen ließ. Historisch unbestritten ist die Tatsache, dass Armenien unter Trdat III. zu Beginn des 4. Jahrhunderts als erstes Land der Welt das
Christentum zur Staatsreligion erhob. Heute liegt der Ort, an dem die Geschichte des christlichen Armenien begonnen haben soll, direkt an der türkischen Grenze in Sichtweite von Wachtürmen
und Stacheldrahtzäunen.
Wir fahren noch einmal rund 100 Kilometer weiter in südöstlicher Richtung aus der Ebene in die Berge des südlichen Kaukasus, über hohe, teils noch verschneite Pässe und zeitweise
direkt entlang der Grenze zur Region Nachitschewan, einer Exklave des verfeindeten Nachbarlandes Aserbaidschan. Da in der Vergangenheit immer wieder einmal Fahrzeuge von den
aserbaidschanischen Anhöhen aus beschossen wurden, haben die Armenier auf der Aserbaidschan zugewandten Seite der Trasse streckenweise zum Schutz einen hohen Erdwall aufgetürmt. Ein
wenig gespenstisch ist all das schon. Unser Ziel ist das mittelalterliche Kloster Norawank, dass in einem Gebirgstal inmitten rötlicher Felsklippen steht. Ab dem 13. Jahrhundert war der
Komplex Bischofssitz und ein wichtiges geistliches Zentrum der Armenier. Ich würde sagen: Wer nach Armenien kommt, muss diesen Ort gesehen haben!
Auf der Rückfahrt bitte ich Martin, an einem der besonders pittoresken Bergpässe einen Fotostopp einzulegen, was ich wenige Minuten später schwer bereue. Auf der Suche nach einem
guten Aufnahmewinkel trete ich auf den Betonboden eines einst dort befindlichen und später bis auf das Fundament abgerissenen Kiosks, der unter mir einbricht. Mit
zerrissenem Hemd, einigen Blessuren - vor allem aber einer zerschlagenen Kamera zieht mich Martin aus dem Loch. Abends lächelt mir dann doch wieder das Glück zu, nachdem wir meinen Frust im
Esszimmer der Pensionsbesitzer mit reichlich hausgemachtem Granatapfelwein heruntergespült haben: An einer Metrostation entdecke ich einen Fotoreparatur-Laden. Der Inhaber schafft es
tatsächlich, bis zum nächsten Mittag meine Kamera in alle Einzelteile zu zerlegen, den defekten Laser auszutauschen und sie mir voll funktionsfähig zurückzugeben.
Nachdem der Fotoapparat gerettet wurde, bleibt das Problem mit dem Flughafenstreik in Deutschland. Die auf den Streiktag folgenden Flüge nach Frankfurt sind alle ausgebucht, aber mit
etwas Mühe kann ich noch nach Stuttgart umbuchen. Armenien muss ich aber wie geplant verlassen, da am Folgetag kein freier Platz mehr für die Teilstrecke von Jerewan nach
Istanbul zu haben wäre. Somit steht fest: Ich werde für einen Tag in der Türkei feststecken. Unverhofft verlängert sich der Spätwinterurlaub.
Armenien und die Türkei unterhalten keine diplomatischen Beziehungen, die Landgrenzen sind seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ausbruch des Karabach-Konflikts komplett geschlossen. Dennoch
gibt es einen täglichen Direktflug zwischen Jerewan und Istanbul mit Pegasus. Nach der Landung dort geht es früh morgens mit der modernen U-Bahn in gut einer Dreiviertelstunde bis zum
Fähranleger von Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus. Hier in der Gegend hatten wir bereits bei unserer Moskau-Reise
2023 einen Zwischenstopp eingelegt. Entsprechend vertraut ist mir das Viertel noch. Bevor ich im Hotel einchecke, kaufe ich mir jedoch ein paar billige Fahrkarten für den ÖPNV in Istanbul und
fahre mit den Linienfähren ein wenig hinüber nach Europa und zurück. Es gibt vermutlich kaum einen besseren Zeitvertreib, als an Bord der meist herrlich altmodischen Schiffe für wenige
Cent zwischen den Kontinenten hin- und herzuschippern.
Am Nachmittag schließt sich ein ausgedehnter Bummel durch das historische Herz von Istanbul mit Basarbesuch und Abstecher in die grandiose Blaue Moschee an. So sehr ich mir auch vornehme, nicht
schwach zu werden: Schwer beladen mit türkischen Süßigkeiten und anderen Leckereien kehre ich abends in mein Quartier nach Kadiköy zurück.
Am nächsten Morgen heißt es früh aufstehen, ich nehme die U-Bahn zurück zum Flughafen Sabiha Gökçen. Dort steht ein harter Kampf gegen unpraktische Check-In-Computer bevor, denn Pegasus hat das ganze Prozedere der Gepäckaufgabe weitgehend automatisiert. Aber letztlich landet der Koffer im richtigen Flieger und am Nachmittag erreicht die Maschine planmäßig Baden-Württemberg. Auf der Rückfahrt mit dem Deutschland-Ticket bringe ich auf halber Strecke gleich noch etwas Kurierpost aus Moskau bei der Adressatin vorbei, bei einem Kaffee lasse ich die zurückliegenden beiden Wochen Revue passieren. Und dann ist eine anstrengende, aber wieder ziemlich ereignisreiche Reise auch wirklich vorbei.