"Moskau ... Wie packt doch dieser Name das Russenherz mit Ungestüm! Was spricht nicht alles, klingt aus ihm!"
Alexander Puschkin (1799-1837), russischer Dichter, in "Eugen Onegin"
Es gab eine Zeit, da habe ich jedes Mal aufgeatmet, wenn mein Zug die Stadtgrenze passierte und mich möglichst weit fort brachte aus dieser nervtötenden Stadt. Moskau ist laut, überfüllt und auf die Dauer anstrengend. Aber das ist nur eine Seite dieser einzigartigen Metropole: Längst geht es dort nicht mehr nur darum, immer neue, noch höhere Hochhäuser zu bauen und immer neue Schnellstraßen auf Stelzen durch die Stadt zu schlagen. Wohl kein Ort in Europa ändert sich so schnell wie die russische Hauptstadt. In den vergangenen Jahren haben wir in Moskau auf unseren Russland-Reisen immer nur relativ wenig Zeit verbracht, sind innerhalb weniger Tage zu einigen Freunden und Verwandten gehetzt und dann weitergereist. Im Sommer 2019 war das anders. Fast zwei Wochen verbrachten wir alle in und um Moskau, hatten dabei Zeit für einen etwas gründlicheren Blick auf Russlands megacoole Weltstadt und oft Mühe, altbekannte Orte wiederzuerkennen.
Nach allerlei weiten Bahnreisen Richtung Polarkreis, Ural und Kaukasus in den vergangenen Jahren hieß es für uns im Sommer 2019 aus familiären Gründen etwas kleinere Brötchen zu backen: Den größten Teil des Sommerurlaubs verbrachten wir nicht weit von Moskau entfernt. Einige Ausflüge mit der Eisenbahn führten uns in Gegenden maximal 250 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.
Ein praktischer Hinweis gleich zu Beginn: Der Hochsommer eignet sich nicht für spontane Flugreisen nach Russland, denn in der Ferienzeit
sind viele Flüge entweder komplett ausgebucht oder sündhaft teuer. Aus Kostengründen wählen wir notgedrungen eine Umsteigeverbindung der Fluggesellschaft Air Moldova. Die
Notlösung hat auch etwas Positives: Die kleine Republik Moldawien, Moldau bzw. Moldova ist tatsächlich der einzige Staat in Osteuropa, den ich bislang noch nie besucht
hatte. Den siebenstündigen Aufenthalt am Flughafen der Hauptstadt Chisinau wollen wir für einen kurzen Besuch im knapp 20 Kilometer entfernten Stadtzentrum nutzen.
Der Flug von Frankfurt nach Moldau ist ein wenig kurios, denn erst verzögert sich der Abflug mehrfach, dann werden wir in ein komplett weiß lackiertes Flugzeug ohne jegliche Beschriftung
gesetzt. Die Einreise in die ehemalige Sowjetrepublik verläuft dafür völlig unspektakulär, und die Busfahrt in die Innenstadt kostet umgerechnet nicht einmal zehn Cent.
Touristisch hat das im Zweiten Weltkrieg komplett zerstörte Chisinau nicht übermäßig viel zu bieten, außerdem ist es bei unserer Ankunft so heiß, dass wir nicht stundenlang
durch die Stadt laufen können. Aber alle Attraktionen scheinen sich ohnehin an einer zentralen Hauptstraße zu konzentrieren, die nach Kriegsende im typischen Stil der Stalin-Ära aufgebaut
wurde. Ein wenig erinnert die Stadt an das Moskau der 1990-er Jahre mit seinen chaotischen Freiluftmärkten, den löcherigen Straßen und verkommenen Fußgängertunneln.
Dafür sind die Leute in Chisinau von der Grenzpolizistin über den Kellner bis hin zu Zufallsbegegnungen auf der Straße sehr freundlich. In der Republik Moldau, so mein Eindruck,
haben die Menschen (anders als im Baltikum oder in der Westukraine) auch ein entspanntes Verhältnis zur russischen Sprache. Praktisch alle sind perfekt zweisprachig, im Radio wechseln sich
russische und rumänische Werbeclips ab, manchmal werde ich zweimal nacheinander begrüßt: "Bună ziua, sdrawstwuitje." Gern hätten wir noch mehr von diesem unbekannten Land gesehen, aber abends
fliegen wir schon weiter nach Moskau-Domodedowo,
Unser Flieger landet erst spät in der Nacht in Moskau, den eigentlich eingeplanten Flughafen-Express verpassen wir knapp, denn zeitgleich mit Air Moldova ist auch ein Flugzeug aus Tadschikistan gelandet, und für dessen Passagiere interessieren sich Zoll und Grenzer ganz besonders. Irgendwann nach Mitternacht erreichen wir doch unser, am Südrand der Moskauer Innenstadt gelegenes Hotel Oserkowskaja (Webseite Russisch/Englisch). Solche Hotels gibt es inzwischen in vielen Gassen des Moskauer Zentrums. Die Zimmerpreise sind erschwinglich, und niemand muss mehr bei einem Besuch in der russischen Hauptstadt in die überteuerten bekannten Häuser ziehen.
Hier beginnt dann praktisch vor der Tür der Stadtteil Samoskworetschje - der Teil der Metropole, in dem besonders viel vom vorrevolutionären Moskau erhalten geblieben ist. Wir bummeln einige Stunden durch die Straßen, die mir von früher gut vertraut sind. Viele Altbauten sind inzwischen vorbildlich saniert, es gibt neue Fußgängerzonen. Vor 20 Jahren war ich hier nahezu täglich unterwegs, als ich noch zu Studentenzeiten damit begann, für das deutsche Programm von "Radio Moskau" zu arbeiten. Das ehemalige Funkhaus an der Metrostation Nowokusnezkaja wird ebenfalls gerade umgebaut.
Irgendwann landen wir an der Großen Steinbrücke über die Moskwa, die einen der besten Ausblicke auf den Kreml bietet. Am anderen Ufer, zwischen Kreml und Lenin-Bibliothek steht seit einigen Jahren eine dieser Monumentalskulpturen, ohne die Moskau wohl besser aussehen würde - das umstrittene Denkmal für den Kiewer Fürsten Wladimir. Der Rote Platz ist leider für mehrere Tage mit riesigen Bühnenbauten eines Boxwettkampfes zugestellt, so dass wir dort nicht viel Zeit verlieren. In den Gassen östlich des Platzes gibt es inzwischen auch viele interessante Lokale, unter anderem ein uriges kaukasisches Restaurant im Loft-Stil, in dem wir unser erstes georgisches Mittagessen in diesem Sommer bestellen. Und die Nikolskaja-Straße hat längst dem Alten Arbat den Rang als beliebteste und überfüllteste Fußgängerzone der Stadt abgelaufen.
Endlich haben wir auch einmal Zeit, um einen der großartigsten Orte in Moskau in Ruhe zu besuchen - den neu angelegten Park Sarjadje. Für mehrere hundert Millionen Euro entstand in direkter Nachbarschaft zum Kreml und dem Roten Platz ein völlig außergewöhnlicher Ort - ein Park, der alle Landschaftszonen Russlands abbilden soll, mit kleinen Birkenwäldern, Steppengräsern und Teichen. Dazu ein teils unterirdisches Veranstaltungszentrum und eine große Freilichbühne. 2018 war ich bereits einmal kurz im Frühjahr hier, aber da konnte man höchstens erahnen, wie es hier in der warmen Jahreszeit aussehen würde.
Der Sarjadje-Park hat internationale Design- und Sadtplaner-Preise abgesahnt. Was diese Grünanlage im Zentrum Russlands aber noch einzigartiger macht, ist die Geschichte des Areals:
Hier befand sich bis vor einigen Jahren das einst größte Hotel der Welt "Rossija". Nach dessen Abriss gab es lange Diskussionen um die Neubebauung des 10-Hektar-Grundstücks, wo
einst ein halber Stadtteil dem Größenwahn der kommunistischen Führung weichen musste.
Die Idee, auf eine Bebauung komplett zu verzichten, kommt bei den Moskauern sehr gut an - und im Sarjadje-Park ist wirklich viel los. Wir verbingen viel Zeit aber schon am Eingang, wo eine
Straßenmusiker-Familie aus Sibirien die Hauptstadt rockt.
Besonders viel Spaß machen mir Entdeckungstouren durch die Straßen östlich des Kremls. Auch hier gibt es Straßenzüge, die eher an
St. Petersburg erinnern als an Moskau. Hier sind wir früher oft spazieren gegangen, hier in der lutherischen Peter-Paul-Kirche haben
wir einst geheiratet. Manchmal nach dem Sonntagsgottesdienst sind wir in eine McDonalds-Filiale an der Marosejka-Straße gegangen, um eine Kleinigkeit zu essen - aus Verzweiflung, denn etwas
anderes gab es dort nicht. Was für ein Unterschied zu 2019! Überall haben in dem Viertel Lokale und Cafés eröffnet. Unser Lieblingsort wird aber der "Chinkali Point" in der
Sabelin-Straße, wo es günstige kaukasische Leckerein gibt und keiner der Tische mehr als 30 Sekunden unbesetzt bleibt.
Manches in der Gegend ist für uns auch eine komplette Neuentdeckung, etwa die Armenier-Gasse mit dem wundervollen Stadtpalast, in dem heute die Botschaft Armeniens
untergebracht ist. Die hatten wir in all unseren Moskauer Jahren irgendwie übersehen. Zufällig finden wir auch die "Dreifaltigkeitskirche in Nikitniki" aus dem 17. Jahrhundert,
mitten im Regierungsviertel hinter dem Alten Platz. Mit ihren fantastischen Fresken ist sie ein echter Geheimtipp.
Viele Besucher der russischen Hauptstadt ahnen gar nicht, dass es am Stadtrand von Moskau ein grandioses Schloss-Ensemble gibt. Der Palast von Zarizyno im Süden der Stadt liegt
inmitten eines riesigen Park-Areals und hat eine absolut unglaubliche Geschichte: Ursprünglich sollte dies die prunkvolle Moskauer Residenz von Katharina der Großen werden. Die beiden
besten russischen Architekten jener Zeit hatten jahrelang an dem Wunderwerk gearbeitet, doch der Herrscherin gefiel das Ergebnis nicht. Und die "Russische Neogothik" sagte der Zarin wohl
auch ganz grundsätzlich nicht zu. Zarizyno wurde nie vollendet, im Laufe der folgenden 200 Jahre verfielen die Bauten langsam. 2005 beschloss die Moskauer Stadtregierung, dass nicht nur
der unter Denkmalschutz stehende Rohbau restauriert, sondern der gesamte Palast fertiggebaut werden sollte.
Ich kannte Zarizyno von einem Besuch vor vielen Jahren und hatte die romantischen Ruinen noch vage in Erinnerung. Die Idee der Moskauer Stadtväter, ein Bauvorhaben aus dem
18. Jahrhundert zu vollenden, fand ich völlig iditiotisch. Das Ergebnis macht aber in jedem Fall Eindruck. Und der Park ringsum ist zu einem Lieblingsort der Moskauer geworden. Vor
allem sind die pseudogothischen, pseudoalten Mauern offenbar inzwischen die Lieblingskulisse für offizielle Hochzeitsfotos. Überall posieren hier die Paare.
In Teilen des Palastes ist inzwischen ein Museum eingerichtet. Wegen des hohen Eintrittspreises verzichten wir aber auf einen Besuch und
fahren lieber eine Runde Tretboot auf einem der Teiche im Park.
Fast für die komplette Zeit unseres Russland-Aufenthaltes kommen wir in Solnetschnogorsk unter, einer Stadt 60 Kilometer nordwestlich von Moskau, an der Bahnstrecke nach St. Petersburg gelegen. Da die kleine schwiegermütterliche Holzhaushälfte zu eng für eine ganze Familie ist, mieten wir uns wie
immer in einem kleinen Hotel ein, wo man uns schon seit Jahren kennt und wir uns inzwischen nicht einmal mehr ausweisen müssen, wenn wir ankommen.
Dass es in diesem Blog noch immer keine Reiseführer-Unterseite über Solnetschnogorsk gibt, ist kein Zufall: Obwohl die Stadt so einen hübschen Namen hat ("Sonniger-Berg-Stadt"), gibt es
hier absolut nichts, was Besucher, noch dazu ausländische, anziehen könnte. Solnetschnogorsk ist eine Mischung aus tristen Sowjet-Plattenbauten, unglaublich geschmacklosen modernen
Hochhäusern und absurden Denkmälern.
Immerhin: Es gibt am Stadtrand den recht großen Senesch-See, in dem man baden oder mit dem Boot umherrudern kann, wenn das Wetter mitspielt (allerdings spielt es in diesem super-kühlen
Sommer so gut wie nie mit). Außerdem gibt es ein modernes Kino mit günstigen Eintrittspreisen und eine ganze Reihe vorzüglicher Sushi-Lokale. Vor allem gibt es einen Bahnhof, an dem die neuen Regionalexpress-Züge der Linie Moskau-Twer stoppen. Aber extra herkommen, womöglich noch übernachten? Einen vernünftigen
Grund dafür gibt es nicht, es sei denn, man hat eine Oma vor Ort - oder eine nächtliche Reifenpanne auf der Durchreise.
Ein wenig interessanter ist da schon das nahegelegene Klin, eine ähnlich große Stadt am nordwestlichen Rand des Moskauer
Verwaltungsgebiets, wo sich Pjotr Tschaikowski einst einen Landsitz zugelegt hatte. Hier entstanden die letzten Kompositionen des Musik-Genies. Leider wählen wir für unseren
Spontanausflug nach Klin ausgerechnet den Ruhetag des Tschaikowski-Museums. Dafür entdecken wir am Nordrand der Stadt eine wunderschöne spätmittelalterliche Kirche.
Auf besonderen Wunsch eines mitreisenden Kindes verbringen wir einen Tag im Moskauer Zoo, eine Entscheidung, die ich bald doch bereue. Denn es ist Wochenende, und der
relativ kleine Hauptstadtzoo im Stadtteil Krasnaja Presnja quillt über vor Besuchern. Noch dazu herrscht gerade ein besonders großer Besucherandrang, weil der Tierpark kurz zuvor zwei Pandabären aus China erhalten hat. Außerdem fällt unser Besuch auf den
vermutlich wärmsten Tag des ansonsten scheußlich kalten Sommers, und viele Zoobewohner dösen irgendwo in ihren Verstecken.
Der Moskauer Zoo hält eine Reihe von Tieren, die man so anderswo kaum oder gar nicht zu sehen bekommt. Insbesondere die Fauna Sibriens und der russischen
Fernostregion ist mit einigen exotischen Arten wie dem Charsa, einem großen Buntmarder, oder den leopardenähnlich gefleckten Amurkatzen vertreten. Viel Zeit verbringen wir auch im
dunklen Keller des Affenhauses, wo Unmengen von nachtaktiven afrikanischen Galagos durch das Gehölz ihrer Volieren hüpfen.
Das Städtchen Istra westlich von Moskau ist ebenfalls ein Ort, der sich in den vergangenen Jahren so stark verändert hat, dass er kaum mehr wieder zu erkennen ist. Hier befindet sich das - im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen zerstörte - Kloster Neu-Jerusalem. Der Name ist Programm: Im 17. Jahrhundert wollte Patriarch Nikon hier mitten im Zarenreich eine Art Miniatur-Kopie des Heiligen Landes schaffen, mit einer Klosterkirche im Zentrum, die einen Nachbau der Grabeskirche enthält.
Wir waren kurz nach der Jahrtausendwende einmal auf dem Gelände, als umfassende Restaurierungsarbeiten bereits liefen, aber noch viele Kriegszerstörungen sichtbar waren. Inzwischen sind die Arbeiten abgeschlossen, und das Kloster beeindruckt sogar im strömenden Regen. Zum Glück gibt es einen überdachten Rundgang auf den Wehrmauern, der uns davor bewahrt, dass wir völlig durchnässt werden. Und die Klosterkantine serviert leckere Suppen und Piroggen. Erstaunlicherweise ist sogar das Fotografieren im Inneren der Kirche erlaubt.
An einem anderen Tag bin ich mit meiner Tochter zu zweit auf Foto-Tour in Moskau. Wir starten an der Christ-Erlöser-Kathedrale, und weil das Wetter gut ist, kaufe ich zwei (teure) Karten für die Aussichtsplattform. Dort oben kann man fantastische Aussichten in
alle vier Richtungen genießen! Anschließend bummeln wir bis zur Krim-Brücke, überqueren die Moskwa und laufen einmal durch den legendären Gorki-Park. Der war - wie so vieles in Moskau - nach der Wende ziemlich heruntergekommen, aber inzwischen kann sich der Park wieder sehen lassen, und unzählige Moskauer
sind hier unterwegs, zu Fuß, mit Rädern oder E-Rollern.
Mit der neuen Moskauer-Ringbahn, die vor einigen Jahren von einer reinen Güterverkehrstrasse zur S-Bahn umgebaut wurde, sind wie in wenigen Minuten am Kutusow-Prospekt, wo
es die besten Aussichten auf das moderne Geschäfts- und Finanzzentrum "Moskau City" mit seinen riesigen Wolkenkratzern
gibt. Auf einem der Türme waren wir vor zwei Jahren, dieses Mal reicht uns der Blick auf die Hochhäuser vom gegenüberliegenden Flussufer aus.
Ein langer Tagesausflug führt uns recht weit nach Nordwesten - in die alte Handelsstadt Torschok. Die Fahrt in einfache
Richtung dauert von Solnetschnogorsk aus etwas über zwei Stunden, in der Gebietshauptstadt Twer können wir bequem von einem Lastotschka-Express
in den nächsten umsteigen. Hier scheint auf den ersten Blick die Zeit weitgehend stehengeblieben zu sein. Das Stadtbild wird von den Türmen der Klöster und Kirchen dominiert, nicht von
Hochhäusern. Im Grunde ist die ganze Stadt ein großes Freilichtmuseum, erbaut überwiegend im Stil des Klassizismus, allerdings nagt fast überall der Zahn der Zeit an den
Baudenkmälern.
Die prächtigste Kirche der Stadt war sogar bis vor einiger Zeit Werkhalle eines kleinen Rüstungsbetriebs und wurde erst kürzlich der orthodoxen Kirche übergeben. Der Priester
will uns zuerst vom Gelände schmeißen, aber dann überlegt er es sich anders, und wir bekommen sogar eine Führung durch seine verwüstete Kathedrale. Auch das bereits im 11. Jahrhundert
gegründete Boris-und-Gleb-Kloster ist nicht im besten Zustand. Dort sind aber auch Arbeiten in Gange, so dass leider der hohe Glockenturm für Besucher gesperrt ist. Das ist schade, ich hatte mich
schon auf die Panorama-Fotos von dort oben gefreut.
Auf der Rückfahrt aus Torschok am späten Nachmittag beschließen wir spontan, noch für ein paar Stunden in Twer an der Wolga einen Zwischenstopp einzulegen. Vom Bahnhof der 400.000-Einwohner-Stadt ist es nur eine kurze Fahrt mit dem Sammeltaxi bis ins
Zentrum mit seinen alten Bürgerhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert und der Fußgängerzone. An einem der Boulevards entdecken wir ein Denkmal für Michail Krug, den König
des russischen Ganoven-Chansons. Der berühmteste Sohn der Stadt Twer wird mittlerweile auch auf T-Shirts und auf Kaffeetassen vermarktet. Ich hocke mich ein Weilchen auf die Bank neben den
Chansonnier, dann bummeln wir weiter zur langen Wolga-Promenade.
Hier am Fluss spazieren jetzt abends die Einheimischen, die Cafés hier sind alle voll. Ein Ausflugsboot dreht seine Runden und Enten warten auf Futter. Diese Großstadt kann
geradezu idyllisch sein. Schließlich werfen wir noch einen Blick auf den Reisepalast von Katharina der Großen, der direkt an Wolga steht. Schloss und Park sind leider schon
geschlossen, aber beim nächsten Mal nehmen wir uns den genauer vor.
Kurz vor dem Heimflug unternehmen wir noch einen letzten größeren Ausflug, denn wir haben eine Einladung zu guten Freunden, die einen Teil der Sommerferien auf ihrer Datsche bei Alexandrow
verbringen. Auf der Route dorthin liegt Sergijew Possad (das ehemalige Sagorsk) mit seinem berühmten Kloster.
Daher beschließend wir, auf dem Hinweg auszusteigen und nachzuschauen, wie es dort aussieht.
In den elf Jahren, die ich in Moskau gelebt habe, war Sergijew Possad der Standard-Ausflug mit allen Besuchern aus Deutschland.
Irgendwann hing mir dieses wunderschöne Kloster, der "russisch-orthodoxe Vatikan" nur noch zum Hals heraus. Seit 2004 war ich deshalb nicht mehr dort.
Sergijew Possad steht noch immer ganz oben auf der Liste vieler Moskau-Touristen, die wenigstens einmal das Umland der Hauptstadt kennenlernen wollen. Vor allem chinesische Reisegruppen sind
allgegenwärtig. Im Unterschied zu Europäerinnen werden die weiblichen Gäste aus Ostasien auch nicht zuechtgewiesen, wenn sie ohne das hier eigentlich übliche Kopftuch in die Kirchen
hineingehen. Natürlich ist die Anlage absolut sehenswert, aber Reisenden mit wenig Zeit würde ich inzwischen fast empfehlen, lieber nach Neu-Jerusalem zu fahren.
Von Sergijew Possad dauert es nur noch eine Stunde bis nach Alexandrow, ein kleines, heute sehr provinzielles Provinzzentrum, das aber im 16. Jahrhundert faktisch russische Hauptstadt war. 17 Jahre lang regierte Iwan der Schreckliche von hier statt von Moskau aus sein Zarenreich. Nachdem er in Alexandrow bei einem Tobsuchtsanfall seinen eigenen Sohn erschlug, verließ er die Stadt für immer. Alexandrow ist offiziell Teil des Goldenen Rings historischer altrussischer Städte, steht aber im Schatten von Rostow Weliki, Wladimir oder Susdal.
Unsere Freunde haben uns auf ihr Wochenendhaus eingeladen, das sich außerhalb der eigentlichen Stadt in einer umzäunten Cottage-Siedlung befindet. Fast ausschließlich Moskauer erholen sich hier
vom anstrengenden Leben in der Hauptstadt. Zu dem Areal gehört auch ein idyllischer Badesee, doch bei unserem Besuch ist es so kalt, dass an Baden nicht zu denken ist. Nachts
sinkt die Temperatur sogar fast bis zum Gefrierpunkt - und das mitten im Hochsommer. Voller Sehnsucht denken wir an den Juli 2018, als wir sogar nördlich des Polarkreises noch baden
gehen konnten.
Am folgenden Morgen besuchen wir das Museum für die Dichterin Marina Zwetajewa, die einige Jahre bis vor der Oktoberrevolution in Alexandrow lebte. Leider geraten wir an
eine sehr extravagante Literaturwissenschaftlerin, deren verworrenen Ausführungen wir nicht folgen können, und die sich so in ihrem Wissen verheddert, dass wir uns vorzeitig aus der Gruppe
verabschieden müssen. Anschließend besuchen wir den Kreml von Alexandrow - wo Iwan der Schreckliche einst Hof hielt.
Nach der Rückkehr aus Alexandrow sind es nur noch zwei Nächte in Moskau, bis der größte Teil der Familie die Heimreise antritt. Weil unser Flugzeug bereits vor fünf Uhr morgens starten soll, verbringen wir die letzte davon in einem Kapsel-Hote am Flughafen Scheremetjewo. Die Kapseln sind erstaunlich geräumig, aber völlig überhitzt. Und weil ständig jemand kommt oder geht, wird es auch nie wirklich ruhig. Egal, um sich einmal wie Edward Snowden zu fühlen, muss man gewisse Einschränkungen hinnehmen...