Eine Pandemie, Einreiseverbote, geschlossene Grenzen und eingestellte Zug- und Flugverbindungen machten im Corona-Jahr 2020 eine Reise nach Russland zu einem Ding der Unmöglichkeit. Dafür nutzten wir die Seuchen-Pause im Sommer dazu, einmal einen ganz anderen Sehnsuchts-Ort am Rand Europas zu besuchen: Sizilien ist viel mehr als eine heiße Badeinsel und Heimat der Mafia. Mit seinen dampfenden Vulkanen und den Hinterlassenschaften verschiedener Zivilisationen zählt Italiens autonome Provinz definitiv zu den interessantesten Reisezielen des Kontinents und ist mehr als eine Reise wert. Von Deutschland aus ist die Anreise problemlos und relativ bequem mit der Eisenbahn möglich.
Als im Frühsommer 2020 klar wird, dass Russland unerreichbar bleibt, aber zumindest die meisten europäischen Nachbarn wieder Besucher aus Deutschland ins Land lassen, schauen wir uns
kurzentschlossen nach einem alternativen Reiseziel um. Wichtig ist uns - neben einem geringem Infektionsrisiko - vor allem die Möglichkeit, bequem mit
dem Nachtzug anzureisen, was die Auswahl schon gehörig einschränkt.
Immerhin verkehren bereits wieder die bequemen Nightjet-Züge der Österreichischen Bundesbahn zwischen München und Rom, was letztlich den Ausschlag gibt.
Trotz Hochsaison am Mittelmeer gibt es noch wenige Tage vor dem Reisetermin problemlos genügend freie Unterkünfte zur Auswahl, so dass wir uns relativ spontan auf den Weg machen können - und zur
ersten größeren Fahrt nach Ausbruch der Pandemie aufbrechen.
Auf der Fahrt nach Sizilien wollen wir eigentlich zwei Nächte nacheinander im Liegewagen verbringen und tagsüber zwischen beiden Etappen schon einmal ein wenig Rom erkunden. Während des Frühstücks im ÖBB-Liegewagen kommen mir Zweifel daran, dass das eine gute Idee ist - denn gegen Ende der Reise wollen wir ohnehin drei Tage lang in Italiens Hauptstadt bleiben. Sehr spontan ändern wir den Plan, beginnen die Haltepunkte vor Rom zu googeln, packen dann hastig unsere Sachen zusammen und steigen eine Station vor der Hauptstadt aus dem Nachtzug aus. Unverhofft stehen wir in der bezaubernden Kleinstadt Orvieto, von deren Existenz wir noch eine Stunde vorher nichts ahnten.
Das historische Zentrum wurde auf einem hohen Felsplateau erbaut, ist vom Bahnhof aus mit einer Standseilbahn zu erreichen und hat sein mittelalterliches Flair bewahren können. Gekrönt wird die Altstadt, die mehreren Päpsten als Residenz diente, von einem grandiosen gotischen Dom. Unter den Häusern haben die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte ein System von Stollen durch den Tuffstein gegraben, das teilweise zu besichtigen ist und uns besonders gut gefällt, weil es draußen bei weit über 30 Grad im Schatten doch sehr heiß wird. Am Abend nehmen wir einen Regionalzug ins anderthalb Stunden entfernte Rom. Hier ist zum ersten Mal zu spüren, wie heftig Italien im Frühjahr von der Seuche gebeutelt worden war. Am Bahnsteig stehen Polizisten mit Fiebermess-Geräten und prüfen bei ausnahmslos allen Reisenden die Temperatur. Niemand mit Fieber darf einfach so in die Stadt. Mangels Alternative warten wir in einem ranzigen Schnellimbiss auf die Abfahrt unseres zweiten Nachtzugs.
Die italienische Eisenbahn betreibt einen täglichen Nachtzug von Rom nach Sizilien mit relativ neuen, aber im Vergleich zu anderen Ländern eher unpraktischen und unbequemen Liegewagen. (ein zweiter zwischen Sizilien und Mailand verkehrte im Sommer 2020 noch nicht wieder). Auch an Bord wird Seuchenschutz recht ernst genommen. Alles ist frisch desinfiziert, und Abteile sind nur für Einzelreisende oder Familien zu buchen.
Die Strecke nach Süden ist spektakulär und für jeden Eisenbahn-Freund ein Muss: Südlich von Neapel führen die Schienen größtenteils direkt an der bergigen Mittelmeerküste entlang. Als Höhepunkt ist im Fahrpreis eine Schifffahrt enthalten, denn eine Brücke zwischen dem italienischen Stiefel und Sizilien gibt es nicht. Stattdessen werden die Eisenbahnwaggons mit Fähren über die Meerenge von Messina befördert. Seit Einstellung des Verkehrs über die Vogelfluglinie zwischen Deutschland und Dänemark im Jahr 2019 handelt es sich um die letzte Trajekt-Verbindung Europas mit Personenverkehr. Wie lange es in Sizilien noch so weiter geht, weiß ich nicht, aber von einem Mitreisenden erfuhren wir, dass Italiens Bahn das kostspielige und verspätungsanfällige Prozedere wohl am liebsten einstellen würde. Die Strecke an Siziliens Nordküste führt auf großen Abschnitten wieder direkt am Meer entlang.
Unser erstes Ziel für mehrere Tage ist der Ferienort Cefalù, eine Stadt mit langer Geschichte und einem eindrucksvollen riesigen Felsen, der direkt hinter der Altstadt senkrecht in die
Höhe ragt. Vor seinem Hintergrund wirkt selbst der gewaltige Normannen-Dom aus dem 12. Jahrhundert fast winzig. Die Kirche ist ein Überbleibsel jener spannenden Epoche, als die
Normannen Sizilien von den Arabern erobert hatten, die Insel eine ungeahnte Blütezeit erlebte und vorübergehend zum kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum Europas aufstieg. Heute gehört
der Bau, in dem westeuropäische, byzantinische und orientalische Einflüsse verschmelzen, zum Unesco-Welterbe.
In normalen Jahren muss in Cefalù im Hochsommer der Bär toben, denn wegen des wunderbaren Sandstrandes gilt der Ort als wichtigstes Urlaubszentrum an Siziliens Nordküste.
Tatsächlich ist Cefalù auch im Juli 2020 einiges los, die Außenbereiche der Lokale sind abends gut besucht. Aber in diesem Jahr machen fast nur Italiener hier Ferien und man kann auch in den
engen Altstadtgassen noch gut Abstand halten. Leider ist es während unseres Aufenthaltes so heiß, dass wir uns keinen Aufstieg auf den Felsen zumuten wollen.
Für einen Tag wollen wir Siziliens Hauptstadt Palermo erkunden. Wir hatten schon gelesen, dass das eine etwas gewöhnungsbedürftige Großstadt ist, aber vor Ort sind wir dann doch überrascht.
Nirgendwo sonst habe ich je auf engem Raum so eine unglaubliche Mischung aus Prunk und Verfall gesehen. Grandiose Stadtpaläste rotten vor sich, selbst im Zentrum sind
offenbar noch nicht alle Schäden des Zweiten Weltkriegs beseitigt. Spektakulär schöne Fassaden zerbröseln, müssen mit Netzen abgedeckt werden, damit herabfallende Steine keine Passanten
erschlagen. Wenige hundert Meter vom pompösen Dom entfernt wirken die Seitenstraßen wie ein Elendsviertel. Doch über ganz Palermo verteilt liegen einige wunderbare
Baudenkmäler mit fast 1.000-jähriger Geschichte, die im sogenannten normannisch-arabisch-byzanthinischen Stil errichtet wurden. Auch hier verfließen wieder Ost und West, Europa und
Orient zu einer einzigartigen mittelalterlichen Multi-Kulti-Mischung.
Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht der alte normannische Königspalast, der bereits dem arabischen Emir von Palermo als Residenz diente und dessen Kapelle mit katholischen
Heiligenbildern, griechisch-orthodoxen Mosaiken und arabischen Inschriften verziert ist. Der Zugang zu dieser wichtigsten Touristenattraktion ist streng reguliert. Auf dem Vorplatz
messen Wachleute bei Besuchern Fieber und im Eingangsbereich müssen alle Gäste zunächst durch eine tunnelartige Schleuse laufen, in der sie mit Desinfektionsmitteln besprüht werden. Auch in
Palermo herrscht eine lähmende Hitze, so dass wir bei weitem nicht alle interessanten Orte anschauen können, die auf unserer Wunschliste standen. Erstaunlicherweise gilt Palermo nach Jahrzehnten
blutiger Mafia-Kriege inzwischen als eine der sichersten Großstädte Italiens. Manche Gassen würde ich in der Dunkelheit trotzdem definitiv meiden.
Nach einigen Tagen verabschieden wir uns von der Vermieterin unserer gemütlichen Altstadt-Ferienwohnung in Cefalù und fahren mit dem Zug zurück Richtung Messina, um eine ganz andere Gegend zu
besuchen: Unser nächstes Ziel sind die Liparischen Inseln (auch Äolische Inseln genannt) - eine Gruppe teilweise noch immer aktiver Vulkane, deren teils über 900 Meter hohe
Kegel aus dem Mittelmeer ragen. Der einfachste Weg dorthin führt über den Fährhafen Milazzo, von wo aus den ganzen Tag über Fähren und schnelle Tragflächenboote zu den sieben Inseln
starten. Am bekanntesten ist natürlich Stromboli, wo der Vulkan bis heute höchst aktiv ist und nahezu im Stundentakt Lava ausspuckt. Wir steuern allerdings zunächst die Insel
Vulcano an, die dem Festland am nächsten liegt.
Auch hier ist bereits bei der Ankunft am Fähranleger sofort zu spüren, warum das Eiland seinen Namen trägt: Bei der Ankunft riecht es stark nach Schwefel, aus so manchen
Ritzen in der Erde qualmt es, und an manchen Stellen im Meer brodelt es verdächtig. Der hiesige Vulkan ist niedriger als der Stromboli und einen richtigen Ausbruch gab es hier zuletzt 1888.
Seither schlummert der Vulkan, aber grundsätzlich könnte es hier jederzeit sehr ungemütlich werden.
Vulcano ist heute stark vom Tourismus geprägt. Es gibt kaum historische Gebäude, dafür ist die ganze Insel mit relativ modernen Feriensiedlungen überzogen, die allerdings
halbwegs erträglich aussehen. Auch wir haben für eine knappe Woche eines dieser Standard-Ferienhäuser mit endlos langer Veranda direkt unter dem Krater gemietet und sind Ende Juli die ersten
Gäste der Saison. Weil Italien im Gegensatz zu Deutschland einen echten, harten Lockdown angeordnet hatte und wegen der Pandemie lange niemand ohne wirklich dringenden Grund auf die Straße
durfte, waren hier einige Arbeiten liegengeblieben. Trotzdem gefällt es uns hier extrem gut und die Gastgeber sind sehr nett.
Höhepunkt eines Besuchs auf Vulcano ist natürlich der Aufstieg auf den 300 bis 400 Meter hohen Kraterrand, für den wir uns extra früh zum Sonnenaufgang auf den einstündigen Weg machen.
Obwohl der Hang noch im Schatten liegt, ist das eine recht schweißtreibende Angelegenheit, die aber mit fantastischen Ausblicken auf die Inselwelt und den gespenstischen Krater belohnt wird.
Sicherlich ist dies einer der merkwürdigsten Orte Europas.
Auf Vulcano gibt es auch wunderbare Badestrände mit schwarzem Lavastrand, obwohl das Mittelmeer Ende Juli fast schon unangenehm warm ist. Die Anschaffung einer Schnorchelmaske ist hier für jeden
Urlauber Pflicht, denn unter Wasser gibt es jede Menge zu sehen: von kleinen Tintenfischen und Flundern bis zu kleinen Riffen mit einer bunten Fischwelt wie in einem Meerwasseraquarium.
Für einen Besuch aller Liparischen Inseln fehlt uns leider die Zeit, und die Boote, die Touristengruppen zum abendlichen "Vulkanausbruch-Wachting" nach Stromboli bringen, sind für Pandemie-Zeiten unangenehm voll. Also verzichten wir darauf. Einen Nachmittag nutzen wir dann aber doch, um wenigstens der Nachbarinsel Lipari einen kurzen Besuch abzustatten. Die Fahrt zwischen beiden Häfen dauert keine halbe Stunde. Hier gibt es eine richtige kleine Stadt mit Festung und einer großen Kirche an der Stelle, an der der heilige Bartholomäus, einer der zwölf Jünger Jesu, bestattet worden sein soll. Außerdem locken ein Fischerhafen und verwinkelte Gassen zum Bummeln. Lipari war schon in der Steinzeit (!) ein wichtiges Handelszentrum, weil der hier abgebaute Obsidian im Mittelmeerraum für die Herstellung von Werkzeugen sehr begehrt war. Es ist kaum zu glauben, aber in den Jahren der faschistischen Diktatur wurden Regimegegner auf diese hübsche Insel deportiert.
Nach einer knappen Woche verlassen wir unser Quartier auf Vulcano und fahren mit der langsamen Autofähre zurück nach Sizilien. Am späten Abend haben wir Tickets für den Nachtzug nach Rom. Die Zeit bis zur Abfahrt wollen wir in Messina verbringen. Unsere Reiseführer dämpfen die Erwartungen an die Stadt, die in der Geschichte immer wieder zerstört wurde. So gilt das Erdbeben von Messina im Jahr 1908 mit bis zu 100.000 Todesopfern als schlimmste Naturkatastrophe Europas im 20. Jahrhundert.
Tatsächlich gibt es bis auf den Dom und eine kleine Kirche aus der Normannen-Zeit keine echten Sehenswürdigkeiten, aber unsympathisch ist Messina trotzdem nicht. Überrascht sind wir, als wir in nahe am Meer ein Helden-Denkmal für russische Matrosen finden. Es stellt sich heraus, dass die Besatzung mehrerer russischer Kriegsschiffe nach dem Erdbeben als erste zur Hilfe eilten - und den Italienern in guter Erinnerung geblieben sind.
Mit der Abfahrt am Abend haben wir Pech. Der Nachtzug aus Rom besteht aus zwei Hälften, die in Messina zusammengehängt werden. An diesem Abend ist aber alles anders. Unser Waggon kommt aus Syracus und hat geschlagene drei Stunden Verspätung. Zunächst macht sich nur der Zugteil aus Palermo auf den Weg in die Hauptstadt - ohne uns, versteht sich. Wir wissen lange nicht, ob wir überhaupt noch von hier wegkommen, erst weit nach Mitternacht geht es mit der verspäteten Zughälfte für uns weiter.
Mit komfortablen dreieinhalb Stunden Verspätung erreichen wir am späten Vormittag Roma-Termini. Immerhin können wir aufgrund der "Verzögerungen im Betriebsablauf" unser Hotelzimmer sofort beziehen und uns dann auf Erkundungstour die die ewige Stadt machen.
Rom, eine der großartigsten Metropolen der Welt, hat eine Vorstellung nicht nötig. Weil es für die Hälfte der Familie der erste Besuch hier ist, absolvieren wir in drei Tagen vor allem auch das Standard--Touristen-Programm und laufen uns zwischen Vatikan, Forum Romanum und Tiber die Füße wund. Alle Attraktionen sind bereits wieder für Touristen geöffnet, aber noch sind kaum Ausländer in der Stadt. Dass der Stadt etwas fehlt, ist überall deutlich zu spüren: Manche Züge der Metro sind fast schon gespenstisch leer. Und in den Touristenvierteln versuchen die Kellner, das Fehlen der Menschenströme mit besonderer Aufdringlichkeit zu kompensieren, um wenigstens ein paar Gäste in ihre Lokale zu ziehen.
Für Kolosseum und die Vatikanischen Museen müssen Eintrittskarten für eine bestimmte Uhrzeit Online gebucht werden, so dass selbst an den bekanntesten Sehenswürdigkeiten alles in geregelten Bahnen abläuft. Lediglich in der Sixtinischen Kapelle ist es, Corona hin, Corona her, noch immer ziemlich voll. Ansonsten gilt wohl, dass wir Rom (und die anderen Orte Italiens) so gesehen haben, wie es in den Jahrzehnten seit Erfindung der Billigfluggesellschaft nicht mehr möglich war. Auch, wenn wir sonst immer eher nach Osten blicken, war das eine wunderbare Erfahrung.