"Du sagtest mir oft, man müsse gegen den Strom gehen. Aber hast du je gesehen, wie man in der Steppe eine Herde wilder Pferde stoppt?"
Valentin Pikkul (1928-1990), sowjetischer Schriftsteller
Am äußersten Südrand der Uralberge bilden riesige Steppen das Grenzgebiet zwischen Russland und Kasachstan. Teile dieser menschenleeren Landschaften wurden in den Jahren nach 1989 zu einem streng geschützten Naturresverat erklärt. Hierher kommen nur ganz wenige Besucher. Wer einen Passierschein für das Territorium erhalten hat und in Begleitung von Rangern durch die Grasebenen streift, bekommt einen faszinierenden Eindruck von den unendlichen Weiten Eurasiens. Ursprünglich bestand das Naturreservat aus vier Teilstücken, vor zwei Jahren wurde es um ein fünftes erweitert. Dort, in der "Vorural-Steppe", werden derzeit mehrere Herden der extrem seltenen Przewalski-Wildpferde ausgewildert.
Das Orenburger Naturreservat ("Orenburgski Sapowednik") nimmt eine Fläche von insgesamt über 38.000 Hektar ein. Seine fünf Teilgebiete liegen alle innerhalb des Verwaltungsgebiets Orenburg, aber weit verstreut - zwischen dem westlichsten und östlichsten liegt eine Entfernung von über 900 Kilometern. In allen Arealen ist von der modernen Landwirtschaft unberührte, mehr oder weniger hügelige Steppe erhalten geblieben.
Anders, als bei Nationalparks, darf das Gelände des Naturreservats nicht ohne weiteres von Menschen betreten werden. Hier geht es wirklich darum, die unberührte Wildnis zu bewahren. Besuche sind dennoch möglich, erfordern jedoch eine gewisse Vorbereitungszeit.
Von Wissenschaftlern abgesehen zieht es die wenigen Touristen meist in das zentrale Teilgebiet "Vorural-Steppe", wo das Auswilderungsprojekt für die Przewalski-Pferde besichtigt werden kann.
Wer die streng geschützten Gebiete betreten möchte, muss vorab einen kostenpflichtigen Passierschein ("Propusk") bei der Reservats-Verwaltung beantragen. Auch mit dieser Genehmigung dürfen Gäste sich nur in bestimmten Bereichen des Schutzgebiets aufhalten - und nur in fachkundiger Begleitung von Inspektoren. Das Orenburger Naturreservat verfügt über eine eigene Abteilung für Öko-Tourismus und arrangiert Führungen und auf Wunsch sogar einen Fahrer für die Strecke von Orenburg ins Reservat. Gäste werden sehr fürsorglich betreut, und die veranschlagten Gebühren sind nach westlichen Maßstäben sehr gering. Nach Aussage der Mitarbeiter waren wir auf unserer Südural-Rundreise im Sommer 2017 die allerersten Besucher aus Deutschland.
Den Fotos auf der Reservats-Webseite nach zu schließen sind die übrigen Teil-Territorien landschaftlich mindestens genauso faszinierend wie die Vorural-Steppe. Für einige Bereiche direkt an der Staatsgrenze zu Kasachstan ist jedoch außer der Erlaubnis der Naturschützer auch noch eine Genehmigung des Inlandsgeheimdienstes FSB erforderlich. Dort kann die Berabeitungszeit schon einmal zwei Monate betragen, und wir hatten dazu weder Zeit noch Lust.
In den Wintermonaten sind Besuche nicht möglich, die Wege zu den Ranger-Posten sind dann oft so verschneit, dass auch ein Geländewagen nicht mehr vorwärts kommt und Verbindungen zur Außenwelt einzig über Motorschlitten möglich sind. Die beste Zeit für einen Besuch soll hingegen im Frühjahr sein, dann ist es nicht ganz so heiß wie im Hochsommer, und außerdem blühen überall in der Steppe die Tulpen.
Das jüngste, insgesamt 165 Quadratkilometer große Teilgebiet des Naturreservats hatte Jahrzehnte lang dem Militär als
Übungsgelände für Bombenabwürfe gedient und wurde erst 2015 unter Schutz gestellt. Wissenschaftler waren damals im ganzen Land auf der Suche nach
einem Territorium zur Wiederansiedlung der Mongolischen Wildpferde und zu dem Ergebnis gekommen, dass das stillgelegte Bombodrom dafür ideal sei.
Vor vielen Jahrhunderten bevölkerten die Wildpferde weite Teile der eurasischen Steppenlandschaften. Bereits im 19. Jahrhundert waren die Tiere extrem selten, als der russische
Entdeckungsreisende Nikolai Przewalski von einer Expedition nach Zentralasien erstmals einen Schädel und ein Fell nach St. Petersburg brachte. Seit etwa 1970 galten die Przewalski-Wildpferde in freier Wildbahn als ausgestorben, lediglich in einigen Zoos und Wildparks hatten
Tiere überlebt. Dank internationaler Anstrengungen leben weltweit insgesamt wieder rund 2.000 Exemplare der letzten Wildpferdeart. Inzwischen laufen unter anderem in der Mongolei und
Kasachstan - und sogar in der Sperrzone um das ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl - Projekte zur Wiederauswilderung.
Im Orenburger Naturreservat lebt eine erste Herde in Freiheit, zwei weitere werden derzeit in riesigen Gattern auf die Freiheit vorbereitet. Die Tiere stammen aus Südfrankreich und Ungarn und haben nur wenig Angst vor Besuchern, so dass man sich ihnen relativ dicht nähern kann. Bei einer Führung mit einer Wildpferde-Spezialistin erfahren Besucher alles Wissenswerte über zwischenzeitlich fast ausgerotteten Tiere.
Zwar sind die Przewalski-Pferde die größten Tiere im Naturreservat, aber zu entdecken gibt es noch wesentlich mehr. In der auf den ersten Blick öden Steppen wimmelt es geradezu von
Nagetieren. Wer eine mehrstündige Tour mit den Rangern unternimmt, kann Murmeltiere und Ziesel beobachten. Im Himmel über den Ebenen schweben Steppenweihen und Adler. Nach Sonnenuntergang
gehen Eulen auf Jagd. Die drolligsten Bewohner des Reservats sind die kleinen Pfeifhasen, die vor allem abends singen wie eine Nachtigall. Sie sind nur mit etwas
Glück zu sehen, allerdings stößt man überall in der Steppe auf kleine Heuhaufen - es handelt sich um die Wintervorräte der putzigen Tiere.
Bei einer geführten Tour machen die Ranger gerne einen Zwischenstopp an einem Abhang, an dem das berühmte "Paläontologen-Murmeltier" seinen Bau hat. Regelmäßig schiebt es interessante
versteinerte Meeresschnecken und Ammoniten vor seinen Höhleneingang: In der Urzeit war dieser trockene Flecken Erde der Boden eines Meeres. Für die wunderschönen
Versteinerungen am Murmeltierbau gilt wie überall im Reservat: Ansehen erlaubt, Mitnehmen streng verboten.
Wenn der Geländewagen sich seinen Weg durch das Gras bahnt, erzählen die Inspektoren auch gerne Legenden über die Hügel, die die Räuber-Berge (Banditskije Gory) genannt
werden. Einst lauerten Wegelagerer hier den Karawanen auf, die Waren aus Zentralasien nach Russland brachten. Im Zweiten Weltkrieg versteckte sich hier eine ganze Reihe von
Dorfbewohnern, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden wollte. Eine Strafexpedition, so heißt es, durchkämmte das gesamte Areal und ließ keinen einzigen Deserteur am Leben.
Die meisten Besucher verlassen das Naturreservat abends wieder. Die Reservatsverwaltung ermöglicht aber auch Übernachtungen in einem mit Stockbetten ausgestatteten Bauwagen. Dort gibt es Strom, Gästen steht außerdem ein Grillplatz und eine "Sommerdusche" zur Verfügung. Luxuriös ist das nicht, aber alles ist sauber. Proviant und Trinkwasser müssen Übernachtungsgäste selbst mitbringen. Der Sternenhimmel fernab der nächsten Siedlung und das Gefühl, dass es auf 16500 Hektar Fläche außer einem selbst und zwei Rangern keine einzige Menschenseele mehr gibt, entschädigen allemal für den eingeschränkten Komfort. (kp)