"Mascha darf nicht bleiben. Wir schicken sie nach Orenburg zu ihrer Patin, da ist Militär und Artillerie genug vorhanden, und die Mauer ist von Stein."
Alexander Puschkin (1799-1837), russischer Dichter, in "Die Hauptmannstochter"
Wer in der Schule gelernt hat, dass Istanbul am Bosporus die einzige Stadt der Welt ist, die auf zwei Kontinenten liegt, wird in Orenburg eines Besseren belehrt: Auch das Provinzzentrum knapp 1.500 Kilometer südöstlich von Moskau wird vom Ural-Fluss in zwei Teile getrennt: Der nördliche liegt in Europa, der südliche in Asien. In ganz Russland verbinden die Menschen die Stadt mit ihrem eigenartigen Namen allerdings mit etwas anderem: den feinen handgestrickten Schals und Kopftüchern aus herausgekämmtem Ziegenhaar. Orenburg liegt nahe der Grenze von Russland zu Kasachstan und abseits der üblichen Touristenrouten, lohnt aber definitv einen Besuch. Hier gibt es genügend Dinge, die einen Reisenden mehrere Tage lang beschäftigen können. In der weiteren Umgebung locken eine Reihe spektakulärer Sehenswürdigkeiten.
Die Geschichte der russischen Provinzhauptstadt kann nicht nur Ausländer verwirren. Dreimal wurde die Festung im 18. Jahrhundert an der damaligen Südgrenze des Zarenreichs an jeweils anderen Standorten neu gegründet. Einen Hinweis darauf bietet schon der eigenartige Name Orenburg. Anders, als selbst viele Einheimische glauben, leitet der sich nicht vom deutschen Wort "Ohr" ab - der Orenburg zum "Horchposten des Zaren" am Rand der Steppen Mittelasiens gemacht hätte, sondern vom ursprünglichen Standort der Festung am Zusammenfluss von Ural und Or - mehrere hundert Kilometer weiter östlich. Ende des 18. Jahrhunderts war das Gebiet um die Festung einer der zentralen Schauplätze des Bauernaufstands. Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin widmete dem Bauernführer Jemeljan Pugatschow und den damaligen Ereignissen seinen Roman "Die Hauptmannstochter", der in und um Orenburg spielt.
Noch zu Zarenzeiten wurde Orenburg zum Zentrum eines großen Gouvernements, das Richtung Osten und Norden zeitweise bis hinter Ufa und Tscheljabinsk reichte und auch Teile des heutigen Kasachstans umfasste. Für Handel und Warenaustausch zwischen Mittelasien und dem russischen Kernland spielte die Stadt schon damals eine wichtige Rolle. Nach der Oktoberrevolution und der Gründung der Sowjetunion war Orenburg für kurze Zeit Hauptstadt der Autonomen Kasachischen Sowjetrepublik, gehört seit 1925 aber wieder zu Russland. Von 1938 bis 1957 trug die Stadt den Namen Tschkalow - zu Ehren des sowjetischen Fliegerhelden Valeri Tschkalow. In der Nachkriegszeit stieg die Einwohnerzahl auf über 500.000 Menschen. Orenburg wurde zu einem wichtigen Zentrum der Rüstungsindustrie, hier wurden unter anderem Kampfflugzeuge und Raketen gebaut. Die Region ist auch die Heimat von Boris Jelzins schillerndem Premierminister Viktor Tschernomyrdin. Der bullige Politiker ist bekannt für unzählige unfreiwillig ulkige Sprüche, die während der 1990-er Jahre die russische Sprache bereicherten ("Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.") An Souvenirständen gibt es mit etwas Glück Kühlschrankmagnete mit den besten Tschernomyrdin-Zitaten.
Im Gegensatz zu Istanbul ist es in Orenburg kein Problem, mal eben von Europa nach Asien zu spazieren. Der Ural-Fluss wird von einer Fußgängerbrücke überspannt und ist nur wenige hundert Meter breit. Nebenan verbindet seit einigen Jahren auch eine Seilbahn beide Erdteile. Die imposanten Treppe vom erhöht gelegenen Stadtzentrum und dem Tschkalow-Monument hinunter zum Fluss war während unseres ersten Besuchs 2017 wegen Sanierungsarbeiten gesperrt. Im Sommer gibt es an beiden Ufern überfüllte Stadtstrände, wem es dort zu voll ist, der kann mit Hilfe kleiner Fähren auch zu entlegeneren Ufer-Abschnitten gelangen. Am rechten, europäischen Flussufer verläuft außerdem die noch immer in Betrieb befindliche Strecke einer Kinder-Eisenbahn, deren Schmalspurzüge Aufslügler mit ihren Picknickkörben und Badetüchern zu weiteren Strandabschnitten östlich des Stadtzentrums befördern.
Im Zentrum von Orenburg sind noch viele repräsentative Bauwerke aus der vorrevolutionären Zeit erhalten geblieben, viele davon wurden in den vergangenen Jahren mustergültig renoviert.
Einen Eindruck vom alten Orenburg erhält man am besten bei einem Bummel auf der zur Fußgängerzone umgewandelten anderthalb Kilometer lange Sowjetskaja Uliza (Straße der Sowjets).
Die Straße verbindet den Platz am Tschkalow-Monument mit der nördlich gelegenen Gebietsverwaltung. Hier stehen noch alte Kaufmanns-Stadtvillen, frühere Bank- und
Verwaltungsgebäude.
Sehr schön restauriert wurden auch die Handelsreihen (Gostiny Dwor/Гостиный Двор). Erstaunlicherweise scheint es in der Gegend bislang noch keine Hotels oder Pensionen zu geben, auch die Anzahl an Cafés und Restaurants ist überschaubar. Aber vielleicht ändert sich das in den kommenden Jahren.
Einige Häuserblocks westlich der Sowjetskaja-Straße lohnt der Stadtpark "Saljut, Pabeda!" ("Salut zum Sieg") einen Abstecher. Parks, in denen es außer schattigen Sitzbänken und Springbrunnen auch ausgestellte Weltkriegswaffen und Denkmäler zur Erinnerung an die Kriegsopfer gibt, sind in russischen Städten keine Seltenheit. Der Siegespark in Orenburg hat es allerdings in sich: Neben den "üblichen" T-34-Panzern und "Katjuscha"-Raketenwerfern, mit deren Hilfe die Rote Armee die Wehrmacht besiegte, haben die
Orenburger sich nämlich noch allerlei andere Mordinstrumente in den Park gestellt: allen voran eine 34 Meter lange atomare Interkontinentalrakete vom Typ R-36M (Nato-Code: SS-18 Satan) - was der Grünanlage einen Platz in unserer Hitliste der kuriosesten Orte Russlands einbrachte. Der Anblick der Atomrakete ist reichlich makaber, aber wahrscheinlich ist es immer noch besser, das Teil steht im Stadtpark, statt auf Berlin zu zielen.
Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, lebte einige Jahre lang in Orenburg - hier besuchte er die Fliegeakademie, an der er zum Kampfpiloten ausgebildet wurde. Über die Stadt sind eine Reihe von Orten verteilt, die an den Kosmonauten erinnern. Wenn man bedenkt, welchen Stellenwert Gagarin in Russland bis heute als eine Art Nationalheld einnimmt, erstaunt, wie wenig sich der Staat um das "Gagarin-Gedenken" kümmert. Das Haus, in dem sich seine einstige Wohnung befand, ist in einem so schlechten Zustand, dass das dort eingerichtete kleine Museum nicht mehr betreten werden darf. Das kleine Weltraum-Museum im Gebäude der früheren Luftwaffenakademie verfügt zwar über einige einzigartige Exponate - etwa Gagarins Original-Übungsraumzug. Weil es sich aber im Gebäude der früheren theologischen Hochschule befindet, würde die orthodoxe Kirche die Ausstellung lieber heute als morgen auf die Straße schmeißen.
An den multiethnischen Charakter von Orenburg erinnert seit 2005 ein Gebäude-Komplex am östlichen Stadtrand - das "Dorf der Nationalitäten". Das Konzept der Anlage, die zwischen eher seelenlosen Plattenbau-Viertel errichtet wurde, ist relativ einfach: Links und rechts eines kleinen Boulevards entstanden kleine Enklaven der wichtigsten im Gebiet einheimischen Nationalitäten, jeweils mit einem kleinen ethnografischen Museum und einem Restaurant mit nationaler Küche. So gibt es in dem "Dorf der Nationalitäten" unter anderem Einblicke in die Kultur der Kasachen, Tataren, Ukrainer, Armenier und Tschuwaschen. Nicht alle Museen und Restaurants sind gleichzeitig geöffnet - das Lokal der Russlanddeutschen steht komplett leer und zum Verkauf, die kleine, rührende Ausstellung über die Orenburger Deutschen kann allerdings besichtigt werden. Zum Mittagessen empfehlen wir die Einkehr im "Baschkirischen Hof". Dort serviert das Café "Baschkirka" leckere Gerichte.
An einigen Stellen im Stadtbild von Orenburg wird die geografische Nähe zu Kasachstan und den mehrheitlich muslimischen Regionen Russlands besonders deutlich. So entstand nordwestlich der Innenstadt in den Jahren 1837 bis 1842 der Gebäudekomplex der Orenburger Karawanserei, ursprünglich gedacht als Hotel für Reisende aus dem nahe gelegenen Baschkirien. Auf dem Gelände befand sich auch eine Schule für baschkirische Kinder und die Verwaltung der aus Baschkiren gebildeten russischen Einheiten der zaristischen Armee. Die Gebäudeflügel mit den Unterkünften
wurden U-förmig um eine Moschee mit separatem, 38 Meter hohen Minarett errichtet. Im Stadtgebiet gibt es eine ganze Reihe weiterer Moscheen. Auffällig ist die Husanija-Moschee im Zentrum - zwischen Handelsreihen und Siegespark gelegen. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch Spenden eines tatarischen Kaufmanns
erbaut und diente zu Sowjetzeiten als Studentenwohnheim.
Bislang führt der Tourismus im Gebiet Orenburg ein Nischendasein. Dabei bietet die Region vor allem östlich der Gebietshauptstadt absolut einmalige Landschaften und Naturerlebnisse. Die meisten russischen Touristen zieht es traditionell in die Stadt Sol-Ilezk südlich von Orenburg. Die dortigen Salzseen genießen in ganz Russland den Ruf, so etwas zu sein wie eine Miniatur-Ausgabe des Toten Meeres. Darüber, ob es sich lohnt, dorthin zu fahren, scheiden sich die Geister. Uns wurde bei unserem Besuch in Orenburg während unserer Südural-Rundreise im Sommer 2017 davon abgeraten: Es sei alles überfüllt und das Wasser so salzig, dass man es dort sowieso nicht lange aushalte. Uneingeschränkt empfehlen können wir aus eigener Erfahrung einen Besuch im Steppenreservat "Orenburgski Sapowednik" (für ausführliche Detail-Infos klicken) sowie in der Gegend um die für ihr Kloster bekannte Siedlung Saraktasch.