"Was auch immer mit meinem Lande geschehen mag, in den Tagen des Zweifels, in Tagen bedrückenden Grübelns über das Schicksal meiner Heimat bist du allein mir Hilfe und Stütze, oh herrliche, mächtige, wahrhaftige und freie russische Sprache."
Iwan Turgenjew (1818-1883), russischer Schriftsteller
Wer eine fremde Sprache lernen will - und das gilt natürlich auch für Russisch - kommt um das Vokabel-Pauken nicht herum. Und ja, das kann schon manchmal anstrengend sein, all diese slawischen Zischlaute und dann die russischen Verben mit ihrem vollendeten und unvollendeten Aspekt. Aber dafür gibt es in der russischen Sprache auch einige Wörter, die sind so schön, dass man sich einfach in sie verlieben muss. Hier folgt eine Übersicht über meine absoluten Lieblingswörter. Manche stehen in nicht einmal im Wörterbuch, weil sie sich gar nicht richtig übersetzen lassen.
Eines dieser unübersetzbaren russischen Wörte ist "awós". Im Grunde genommen drückt es eine ganze Lebensphilosophie aus. Wer auf den "Awos" vertraut, ist bereit zu kühnen Taten, die auch schon mal etwas riskant sein können. Anstelle aber gründlich zu planen und mögliche Folgen zu durchdenken, setzt man darauf, dass eine Fügung des Schicksals und ein bisschen Glück schon zu einem guten Ende führen werden. Abgeleitet vom "Awos" ist die "awoska" - ein praktisches Einkaufsnetz, das viele Menschen in der sowjetischen Mangelwirtschaft immer bei sich trugen, für den Fall, dass irgendwo plötzlich Defizit-Waren verkauft wurden.
Beispielsatz: "Править лошадью он не умел, дороги не знал и ехал на авось, куда глаза глядят, надеясь, что сама лошадь вывезет."
"Er wusste nicht, wie man ein Pferd lenkt, kannte den Weg nicht und ritt aufs Geratewohl umher, darauf hoffend, dass das Pferd ihn schon fortbringen würde." - Anton Tschechow in:
"Pferdediebe".
Auch "Bespredel" ist ein sehr russisches Wort. Häufig wird es mit "Chaos" oder "Willkür" übersetzt, aber auch das ist ungenau. "Bespredel" - das ist ein Zustand, in dem keinerlei rechtlichen und moralischen Normen mehr gelten. Das Oschegow-Wörterbuch erklärt den Begriff, der usprünglich aus dem Ganoven-Slang kommt, mit "höchste Stufe der Gesetzlosigkeit". Vor allem in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion sahen viele Russen ihr Land im "Bespredel" versinken.
Beispielsatz: "Беспредел на выборах в Москве, Петербурге и других российских регионах отражает панику власти." "Die absolute Gesetzlosigkeit bei den Wahlen in Moskau, Petersburg und in anderen russischen Regionen ist Ausdruck für die Panik, die die Staatsmacht erfasst hat." - Medienbericht zu den Regionalwahlen 2019.
Die "Datscha" ist ein so schönes russisches Wort, dass es sogar in Einzug in die deutsche Sprache fand: Zumindest in den ostdeutschen Bundesländern ist ein Kleingarten-Häuschen bis heute für viele eine Datsche. In Russland ist die Datscha unverzichtbarer Bestandteil des Lebens der allermeisten Menschen, wichtigstes Hobby und oft auch einziger bezahlbarer Ort für die Ferienwochen. In der Regel ist sie auch recht solide gebaut, so dass man zumindest in den wärmeren Monaten gut dort übernachten kann. Die korrekte Übersetzung geht also eher Richtung Wochenendhaus statt Schrebergarten-Hütte. Oft ist das Wohnhaus der Großeltern auf dem Land auch die Datscha für die nachfolgenden Generationen.
Das russische Wort für "Sehenswürdigkeit" ist der Angstgegner aller beginnenden Russisch-Lernenden. Aus unerklärlichen Gründen kommt es in allen Lehrbüchern recht weit am Anfang vor. Wer es einmal gelernt hat, vergisst es nie mehr.
Was den Türken ihr Dolmus, ist den Russen und den Menschen in den anderen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion ihre Marschrútka. Eigentlich lautet die korrekte russische Bezeichnung für Sammeltaxis "marshrutnoje taxi", abgeleitet von dem deutschen Begriff "Marschroute". Aber offenkundig niemand sagt das so, weil es die ungleich sympathischere Koseform für dieses Verkehrsmittel gibt. Die Minibusse mit festgelegter Route, die aber überall unterwegs auf Wunsch der Fahrgäste gestoppt werden können, sind ein ungemein praktisches, günstiges, wenn auch nicht immer komfortables Verkehrsmittel.
Ein wichtiges russisches Wort für alle, die eine Reise durch das Land unternehmen. Ein "Popútschik" ist eine zufällige Reise-Bekanntschaft, ein Gefährte auf Zeit, mit dem man zum Beispiel ein Eisenbahnabteil teilt. Die Größe Russlands machen auch das Wunderbare am Poputschik aus: Man kann mit ihm über Gott und die Welt philosophieren, sich all seinen Kummer von der Seele reden, und dabei weiß man, dass man den Poputschik wohl niemals im Leben wieder treffen wird. Oft kennt man nicht einmal seinen Namen.
Beispielsatz: "Но однажды я встретил попутчика, расскажу вам о нем, знакомьтесь." "Aber einmal habe ich einen Reisegefährten kennengelernt, von dem erzähl ich euch, macht euch bekannt." - Wladimir Wyssozki, in: "Poputschik"
In Russland gehören sie zum Lauf des Jahres wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter: Die Wochen im Jahr, in dem Regen und Schneeschmelze unbefestigte Straßen und Wege in weiten Teilen des Landes in kaum passierbaren, tiefen Morast verwandeln, bezeichnet man auf Russisch als Raspútiza - zu deutsch: die Schlammzeit.
Beispielsatz: "Отход в ужасную осеннюю распутицу принёс больше вреда, нежели военное поражение." "Der Rückzug mitten in der fürchterlichen herbstlichen Schlammperiode hat mehr Schaden angerichtet als die militärische Niederlage." - Oleg Michailow, in: "Suworow".
Auch die deutsche Sprache kennt viele Synonyme für Langweiler, Spielverderber und Miesepeter. Aber das russische Wort "Sanúda" für diesen Personenkreis gefällt mir ganz besonders, weil darin die ganze Abneigung für solche unangenehmen Zeitgenossen schon so schön mitklingt.
Allein Alkohol zu trinken, ohne Trinkspruch zumal, das gilt in Russland als ganz schlechter Ton. Man braucht zum Alkoholkonsum eigentlich zwingend einen Trinkkumpan. Auf Russisch gibt es dafür das schöne Wort "Sobutylnik", wörtlich bedeutet es "Mitfläschler".
Beispielsatz: "Не стоит обращать внимание на мой внешний вид. Под этой оболочкой скрывается прекрасный собутыльник." "Meinem Aussehen darf man nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Hinter dieser Schale verbirgt sich ein wunderbarer Zechbruder." - Autor unbekannt.
Eine Liste meiner russischen Lieblingsworte wäre unvollständig,
wenn darin nicht auch mein Lieblingstier vorkommen würde. Der Russische Wychuchol (Desmana moschata) ist eines der seltsamsten Geschöpfe, die man sich vorstellen kann. Das seltene scheue Tier ist ein Verwandter der Maulwürfe, verbringt aber einen Großteil seines Lebens im Wasser. Auf Deutsch wird der Wychuchol auch als Russischer Desman oder Bisamrüssler bezeichnet. Aber das russische Lehnwort klingt natürlich viel niedlicher für diese kleinen Pelzknäuel.