"Dies ist der Treffpunkt zweier Welten. Und deshalb hat er auch zwei Anfänge: einen westlichen und einen östlichen. Ihr begegnet ihnen an jeder Straßenkreuzung."
Alexander Herzen (1812-1870), russischer Philosoph
Kasan an der Wolga ist einer der bemerkenswertesten Orte Russlands. Russen und muslimische Tataren bilden jeweils etwa die Hälfte der Bevölkerung, prägen die über 1.000 Jahre alte Millionenstadt gleichermaßen. Islamische und christlich-orthodoxe Welt kommen hier alles in allem recht gut miteinander zurecht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion strebten viele Tataren zeitweise die völlige Unabhängigkeit von Moskau an. Mittlerweile haben sie sich mit dem Status quo arrangiert, legen allerdings weiter wert auf ihre eigene Kultur und Sprache. Als Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan ist Kasan heute eines der wohlhabenderen russischen Provinzzentren mit einer sehr guten touristischen Infrastruktur und einer Vielzahl von Sehenswürdigkeiten.
Die Geschichte von Kasan reicht bis ins frühe Mittelalter zurück - auf einen Grenzposten im damaligen Reich der muslimischen Wolgabulgaren. Nach der Eroberung durch die Goldene Horde wurde Kasan im 15. Jahrhundert zur Hauptstadt des gleichnamigen Khanats und blühte als Handelszentrum auf. 1552 nahmen russische Truppen den Kreml von Kasan ein und machten das Zentrum des Tatarenreichs dem Erdboden gleich. Anschließend wurde die Stadt als russisches Provinzzentrum wiederaufgebaut, die tatarische Bevölkerung siedelte sich nun vorwiegend am Stadtrand an. Allerdings nahm Kasan auch in der russischen Ära eine herausgehobene Stellung als Wirtschafts- und Kulturzentrum der Wolgaregion ein. So wurde 1804 in der Stadt die dritte Universität Russlands eröffnet - noch vor der Petersburger. Zur 1.000-Jahr-Feier 2005 wurde Kasan grundlegend umgestaltet, eine Metro und eine Vielzahl moderner repräsentativer Großbauten wurde fertiggestellt, einige heruntergekommene Stadtviertel im Zentrum fielen der aufwändigen Verjüngungskur jedoch recht gnadenlos zum Opfer.
Die Bauman-Straße, benannt zu Ehren des Revolutionärs Nikolai Bauman, verbindet den Kasaner Kreml mit dem Gabdulla-Tukai-Platz und wurde vor etwas über 30 Jahren zur ersten Fußgängerzone von Kasan umgewandelt. Auf beiden Straßenseiten sind eine Vielzahl historischer Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert erhalten, dazu etliche Cafés und Restaurants, Buch- und Souvenirläden. Unter der Flaniermeile verläuft heute die erste Linie der Kasaner Metro, aber die Bauman-Straße ist natürlich viel zu hübsch, um einfach unter ihr hindurchzusausen.
Wer einen Bummel am Tukai-Platz beginnt, sieht zunächst eine große, mit arabischen Schriftzeichen verzierte Straßenuhr, auf der linken Seite erinnert ein Denkmal an den in Kasan geborenen Sänger Fjodor Schaljapin. Ganz in der Nähe befindet sich das höchste Gebäude in der Gegend, der Glockenturm der Epiphanias-Kirche. Eines der wenigen moderneren Gebäude an der Bauman-Straße ist das "Haus der Presse" im Stil der sowjetischen Konstruktivisten. Kurz vor dem Kreml befindet sich auf der rechten Seite die hübsche Nikolaus-Kathedrale.
In der zaristischen Zeit bildeten der Wildschweinsee und das Flüsschen Bulak die Grenze zwischen der nun russischen Stadt Kasan und den von Tataren bewohnten Vorstädten. Ab Ende des 18. Jahrhunderts gestattete die Obrigkeit den dort lebenden Muslimen, wieder Moscheen zu errichten. Mit Hilfe reicher tatarischer Händler entstanden in der Zeit bis zur Oktoberrevolution viele Gotteshäuser. Deren Minarette und die oft in bunten Farben gestrichenen Häuser geben den Vierteln bis heute einen etwas exotischen Einschlag. Von besonderem Interesse ist die Mardschani-Moschee aus dem Jahr 1770, die einzige der Stadt, die während der Sowjetherrschaft nie geschlossen wurde. Viele Straßenzüge in der Tatarenvorstadt waren in den vergangenen Jahrzehnten recht heruntergekommen, inzwischen werden alte Holzhäuser teilweise wieder saniert, aber leider nicht alle Bauvorhaben sind wirklich gelungen.
Im Gegensatz zu anderen großen Wolgastädten wie Nischni Nowgorod, Jaroslawl oder Wolgograd verfügt Kasan über keine Uferpromenade. Der Fluss fließt neben der Stadt vorbei. Wer den beeindruckenden (weil aufgestauten) Strom sehen und erleben möchte, sollte eine Bootstour unternehmen. Ausflugsschiffe starten in der Sommersaison regelmäßig vom Flussbahnhof im Südwesten der Stadt. Daneben gibt es auch einige Tragflügel-Schnellfähren vom Typ "Meteor", die Kasan mit einigen Städten stromabwärts verbinden. Auch Ausflüge auf die Museumsinsel Swijaschsk sind möglich. Den Flussbahnhof (Речной вокзал, Retschnói Waksál) erreicht man vom Zentrum aus problemlos mit Straßenbahn oder Marschrutka-Sammeltaxi.
Das unvollendete Werk eines schillernden Künstlers am äußersten westlichen Stadtrand von Kasan ist mittlerweile fester Bestandteil von Stadtrundfahrten und Exkursionen: Ein wunderlicher Wunderheiler namens Ildar Chanow hat jahrelang beharrlich an einem Tempel aller Religionen gewerkelt. Das Ergebnis ist eine kaum noch zu überblickende Menge an Kirchenkuppeln und Minaretten. Aber auch eine Buddhastatue und Erinnerungen an längst nicht mehr praktizierte antike Religionen dürfen auf dem Gelände nicht fehlen. Einen Gottesdienst hat es hier noch nie gegeben, denn der Tempel aller Religionen missachtet so ziemlich alle baulichen Vorschriften der Weltreligionen. So sind die Moschee-Räume beispielsweise nicht nach Mekka ausgerichtet. Seit dem Tod des Baumeisters Chanow bauen Anhänger von ihm weiter an dem Gebäudekomplex. Gewöhnlich ist nur eine Außenbesichtigung möglich. Selbst, wer das ganze Vorhaben für das Werk von Verrückten hält, ist beim Anblick schwer beeindruckt. Die Anfahrt ist mit einem Vorortzug oder per Taxi möglich.
Kasan verfügt über einen großen internationalen Flughafen. Aktuell werden neben einem dichten Netz an Inlandsflügen unter anderem direkte Linienflüge nach Istanbul,
Antalya, Belgrad und Dubai angeboten. Bis zur Coronavirus-Pandemie bestand sogar eine Direktverbindungen der Aeroflot von Frankfurt am Main. Der Gabdullah-Tukai-Airport liegt rund
30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wurde für die Sommer-Universiade 2013 und die Fußball-WM 2018 umfangreich modernisiert. Es gibt eine Bahnverbindung zum Hauptbahnhof.
Normalerweise führt die Anreise nach Kasan aber wohl weiterhin über Moskau. Per Nachtzug ist die Stadt sehr gut von dort aus zu
erreichen. Die Auswahl an Zügen ist sehr groß, da Kasan an einer der Hauptlinien der Transsibirischen Eisenbahn liegt. Auf halber Strecke zwischen Moskau und Jekaterinburg gelegen drängt es sich als Zwischenstopp geradezu auf. Nach Moskau (Kasaner oder Jaroslawler Bahnhof) beträgt die Fahrtzeit zwischen elf und 13 Stunden, Tickets im 4-Bett-Abteil gibt es bereits für umgerechnet knapp 30 Euro. Achtung:
Einige der Sibirienzüge halten nicht mehr am schönen historischen Hauptbahnhof, sondern an der Vorortstation "Wosstanie". Dort gibt es inzwischen einen Anschluss an die Metro, so dass es kein
Problem darstellt, an diesem etwas verlassen wirkenden Ort auszusteigen. Die Bahnverbindungen in andere angrenzende Regionen sind leider nicht so gut. So gibt es nur einen einzigen langsamen
Nachtzug nach Samara und gar keine wirklich brauchbaren Verbindungen Richtung Perm.
Bei unserer Russland-Rundreise im Sommer 2016 sind wir im Hotel "Kauschtschi" in der tatarischen Vorstadt
abgestiegen. Die Unterkunft in einem liebevoll wieder hergerichteten Holzhaus hat uns sehr gut gefallen. Mitten in einer Millionenstadt erwartet man schließlich kein Hotelzimmer,
in dem die Wände aus dicken Holzstämmen bestehen...
Einst gehörte das Anwesen einem angesehenen tatarischen Schustermeister, daher auch das Aushängeschild mit dem Stiefel. Das Hotel befindet sich nur wenige Schritte von Sehenswürdigkeiten wie
der Mardschani-Moschee entfernt. Ein großer Teil der Zimmer befindet sich in einem moderneren Anbau, der möglicherweise weniger stilvoll ist.
Kasan hat noch einen weiteren großen Vorzug: Gut günstig essen gehen ist kaum irgendwo in Russland einfacher. In der Stadt gibt es ein bemerkenswert breites Angebot an exzellenten Selbstbedienungsrestaurants mit tatarischer Küche. Eine gute Adresse für hungrige Touristen ist die Uferstraße in der tatarischen Vorstadt. Mehr als ein Geheimtipp ist auch die Traditionskantine
"Haus des Tees" ("Dom Tschaja") in der zentralen Bauman-Straße 64.
Auf den Speisekarten finden sich einige Gerichte, die es in anderen Regionen Russlands nicht gibt, vor allem tatarische Teigwaren wie die mit Fleisch und
Kartoffelstückchen gefüllten "Dreiecke" (tatarisch: "Etschpotschmak") sind überall erhältlich. Ähnlich - aber rund - sind die meist mit Hühnerfleisch gefüllten Elesch-Brötchen.