"Wer Gunib nicht gesehen hat, hat den Kaukasus nicht gesehen."
Rassul Gamsatow (1923-2003), awarischer Dichter
Umgeben von schroffen, dramatischen Bergen, mitten im Zentrum der urtümlichen Kaukasus-Republik Dagestan liegt das Kreiszentrum Gunib. Das Dorf befindet sich unterhalb der Spitze eines eingewölbten Bergplateaus. das 200 bis 400 Meter über dem Tal eine nahezu uneinnehmbare natürliche Festung bildet. Gunib ist wohl jedem Menschen im Kaukasus ein Begriff: Hier endete im August 1859 der 50-jährige Krieg der russischen Armee gegen die aufständischen Bergvölker. Der legendäre Imam Schamil hielt sich hier zuletzt, militärisch bereits geschlagen, mit seinen letzten Kämpfern verschanzt. Mit der Gefangennahme ihres Anführers war der bewaffnete Widerstand der Tschetschenen und Dagestaner gegen die Einverleibung durch das Zarenreich (vorerst) beendet. Heute können Reisende auf den Spuren der dramatischen Geschichte durch die Berge wandern.
Gunib ist heute ein relativ modern wirkender Aul (das ist die Bezeichnung für die Bergdörfer im Kaukasus), der Mitte des 19. Jahrhunderts um ein russisches Fort herum entstand. Wer von der Chaussee im Tal kommend nach endlosen Serpentinen das Dorfzentrum erreicht, befindet sich allerdings erst im "unteren Gunib". Das alte Gunib, der Ort, an dem sich Schamil mit seinen letzten 400 treuen Kämpfern verschanzt hatte, lag noch weiter oberhalb des heutigen Dorfs, wurde im Kaukasuskrieg zerstört und danach nicht mehr aufgebaut.
Hier hatten sich im Sommer 1859 dramatische Szenen abgespielt. Den Soldaten des Zaren war es gelungen, Schamils Männer vollständig zu umzingeln. Nach mehreren Sturmangriffen auf die Bergfestung
von verschiedenen Seiten war der Imam schließlich bereit zu kapitulieren. Der Plan der Russen ging auf: Sie boten ihm ein ehrenvolle Verbannung in Zentralrussland und verhinderten so,
dass ein Nachfolger den Kampf fortsetzte.
Die Bevölkerung von Gunib besteht fast komplett aus Awaren - den Angehörigen eines der über 20 Völker und Volksgruppen, die Dagestan besiedeln. Einige der älteren Dorfbewohner
sprechen nur schlecht Russisch.
Im Ort gibt es heute einen Marktplatz für die Bauern der Umgebung, ein Krankenhaus, einige Hotels und Cafés. Wirklich herausragende Sehenswürdigkeiten gibt es nicht - die einzigartige Lage des Dorfes und die umliegende Natur machen Gunib und seine Umgebung nach unserer Überzeugung trotzdem zu einem der interessantesten (und exotischsten) Orte Russlands.
Außerdem befindet sich in der ehemaligen russisch-orthodoxen Garnisonskirche ein kleines sehenswertes Heimatkundemuseum. Die enthusiastische Museumschefin ist meistens vor Ort zu finden und freut sich über Besucher, die die traditionellen Gewänder und Hirtenmützen auch gerne einmal persönlich anprobieren können. Besucher lernen außerdem, dass der Familienstand dagestanischer Frauen traditionell daran zu erkennen war, wie sie die Wasserkrüge zum Brunnen trugen.
Vom Ortszentrum des modernen Gunib schlängelt sich eine Serpentinenstraße aufwärts zu einer Hochebene, auf der sich einst der alte Aul befunden hatte.Große Teile davon stehen heute als "Naturpark Oberes Gunib" unter Naturschutz (was manche der Einheimischen nicht abhält, trotzdem mit ihren Autos zum Grillen dorthin zu fahren).
Einige Orte hier erinnern an die Ereignisse des 19. Jahrhunderts, vor allem ein als "Schamils Pavillon" bekanntes Denkmal an der Stelle, an der sich der Imam dem russischen General Barjatinski ergeben haben soll. Außerdem sind die Überreste russischer Befestigungsanlagen zu bestaunen. Mitten im Naturpark befindet sich ein Botanischer Garten, in dem die Flora des Kaukasus gesammelt und erforscht wird.
Die Anreise vom 140 Kilometer entfernten Machatschkala führt über eine gut ausgebaute Trasse an Buinaksk vorbei, durch Russlands längsten Straßentunnel bei Gimri und am Ufer des Irganai-Stausees entlang. Es verkehren "Marschrutka"-Sammeltaxis. Wir empfehlen aber dringend, einen individuellen Transfer zu organisieren: Denn die Strecke ist so spektakulär, dass man eigentlich unterwegs hinter jeder Kurve oder nach jeder Anhöhe aussteigen will, um die grandiosen Aussichten zu genießen und Fotos zu machen. An einigen strategisch wichtigen Kreuzungen gibt es noch immer Checkpoints der russischen Sicherheitskräfte mit Fahrzeugkontrollen.
Während unserer Dagestan-Reise im Frühjahr 2019 waren wir einige Nächte im Hotel "Weiße Kraniche" ("Belye Shurawli",
Imam-Schamil-Platz 1, Telefon: +7.988-2121818, auch über die gängigen Hotel-Portale buchbar). Das privat geführte Haus steht wenige Schritte vom zentralen Dorfplatz
entfernt, bietet preiswerte Zimmer mit und ohne eigenes Bad und ein grandioses Frühstück mit lauter hausgemachten dagestanischen Spezialitäten - die große Tafel, an der
alle Gäste Platz nehmen, biegt sich, wenn selbst gebackenes Fladenbrot, selbstgemachter salziger Schafskäse, Marmeladen und Urbetsch (eine kaukasische Paste aus zermahlenen Nüssen,
Samen oder Aprikosenkernen) aufgetischt werden.
Ebenfalls direkt am zentralen Platz befindet sich das sehr empfehlenswerte "Art Café", in dem man nicht nur Kaffee trinken, aber auch deftiges Essen bestellen kann. Eine
Speisekarte gibt es in dem Lokal nicht. Man kann aber immer in der Küche fragen, welche Gerichte gerade vorrätig sind - auf jeden Fall gibt es immer das dagestanische Nationalgericht Tschudu -
dünne Teigfladen mit Käse oder Fleisch.
Im "Art Café" treffen sich abends Touristen, Einheimische und auch mal ein paar Polizisten, die ihre Kalaschnikows leger über die Stuhllehnen hängen. Uns hat es in dem recht gemütlich
eingerichteten Lokal so gut gefallen, dass wir während unseres Aufenthaltes in Gunib nirgendwo anders nach einem Abendessen Ausschau hielten. Viel Auswahl gibt es in dem kleinen Ort
aber ohnehin nicht.
Gunib ist ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge in die Berge Dagestans: In der Umgebung gibt es eine ganze Reihe sehenswerter traditioneller Bergdörfer, etwa die Aule Tschoch und Sogratl. Auch die Ruinen der verlassenen Siedlung Gamsutl ziehen inzwischen mit jeden Jahr mehr Besucher an.
Wir konnten in der uns zur Verfügung stehenden Zeit noch den unterirdischen Wasserfall von Salta besuchen, der im Frühjahr allerdings zu einem kleinen Rinnsal geschrumpft
war. Unsere neuen Bekannten aus Gunib schwärmten uns noch die Ohren voll von vielen, vielen weiteren Orten, Schluchten und Wasserfällen, aber wir haben es nicht geschafft, alles anzusteuern.
Sehr sehenswert soll beispielsweise die gespenstische Karadach-Klamm sein. Ein Beamter der Kreisverwaltung hatte uns außerdem einen Besuch in dem halb verlassenen Dorf Koroda ans Herz
gelegt.
Leider gibt es zu den meisten Sehenswürdigkeiten und kleinen Ortschaften keinerlei öffentlichen Personenverkehr. Reisende ohne eigenes Auto sind auf einen (am besten
geländegängigen) Wagen mit Fahrer angewiesen, die man vor Ort aber problemlos finden kann. Die Straßenqualität schwankt zwischen passabel und katastrophal.