Als Ende 2016 der Russland-Reiseblog Rhein-Wolga-Kanal ins Netz ging, stand hinter dem Projekt der Gedanke, neugierig auf ein Land zu machen, das mir viel bedeutet und von dem viel zu viele Menschen im Westen nur Klischees im Kopf haben. Um Politik sollte es hier eigentlich nie gehen. Aber wie soll man einen Russland-Reiseblog betreiben, wenn der neue Ost-West-Konflikt zu einer russischen Invasion in der Ukraine eskaliert, und wenn dann zeitweise sogar der Hashtag #Weltkrieg bei Twitter trendet? Darf man da unpolitisch bleiben? Dazu einige Gedanken nach zweitägiger Schockstarre.
Tatsächlich sind es nur einige Tage, doch es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Vor dieser gefühlten Ewigkeit war ich viel damit beschäftigt, besorgten Menschen im Freundes- und Bekanntenkreis zu erklären, warum es keinen offenen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben würde. Denn die Führung im Kreml hatte sich in den Jahren zuvor zwar oft relativ skrupellos verhalten (wie die anderer Großmächte auch), aber bislang doch stets mehr oder weniger rational. Eine Invasion wäre ein Selbstmordunternehmen und würde die Ukraine-Krise unlösbar weiter verwirren. Und wer nach all den Lügen der vergangenen Jahre noch immer anonymen amerikanischen Geheimdienstquellen vertraute, dem war nun wirklich nicht mehr zu helfen.
So in etwa die Argumentation. Sie enthielt einige sehr grobe Fehleinschätzungen. Russlands Staatsschef Putin ist tatsächlich so geworden, wie ihn manche Leitartikel-Autoren im Westen schon immer gemalt haben.
Die Nachrichten, die am denkwürdigen 24. Februar 2022 plötzlich auf dem Laptop-Bildschirm auftauchten, waren so fürchterlich und unvorstellbar, dass zunächst nur eine einzige Strategie sinnvoll erschien: In den Keller gehen und dort aus Verzweiflung sämtliche Wodka-Vorräte austrinken. "Dieser Krieg ist Wahnsinn und eine Schande für Russland", schrieb der von mir über alles geschätzte russische Alt-Rocker Boris Grebenschtschikow auf Twitter. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird auch nicht dadurch weniger verbrecherisch, dass er das Resultat einer langen Kette gravierender politischer Fehler und enttäuschter Hoffnungen ist. Vieles ist da sehr
grundlegend falsch gelaufen - und weiß Gott nicht nur auf russischer Seite. Da gab es die gebrochenen Versprechen, Russland nach dem Kalten Krieg in gemeinsame Sicherheitsstrukturen
einzubinden, stattdessen die gegen alle Bedenken durchgezogene Nato-Osterweiterung, die völkerrechtswidrigen Kriege des Westens und den vom Westen beklatschten, blutigen Umsturz in der Ukraine
2014 mit anschließendem Blankoscheck für die neue Kiewer Führung (die alles dafür tat, um ihr Land endgültig zu ruinieren). Über all diese Dinge hätte man diskutieren
können - und zwar bis zum 24. Februar 2022.
Aber nicht jetzt, während in ukrainischen Städten Sirenen heulen, Menschen in den U-Bahn-Stationen von Kiew und Charkow Zuflucht suchen, Tausende panikartig die Ukraine verlassen
oder sich auf den Häuserkampf in ihrem Stadtviertel vorbereiten. Egal, wie Russlands "militärische Spezialoperation" ausgeht - sie wird für enormes menschliches Leid sorgen, für noch sehr viel
mehr Hass und Feindschaft. Sie kostet Menschenleben, spaltet Familien und zerstört Freundschaften. Wer jetzt nicht an der Seite der ukrainischen
Bevölkerung und der russischen Kriegsgegner steht, ist unanständig. Punkt.
In sozialen Netzwerken heften sich gerade viele meiner russischen Freundinnen und Freunde ukrainische Fahnen an ihre Profilfotos oder ersetzen sie durch schwarze Quadrate. All das
empfinde ich als sehr rührend, aber natürlich gilt auch: Es wird nichts ändern.
Denn der Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist ein historischer Wendepunkt der europäischen Geschichte, der den Kontinent wohl auf Jahrzehnte in eine neue
politische Eiszeit stürzen wird. "Das Kapitel der Zusammenarbeit mit dem Westen ist abgeschlossen", notierte der kluge Moskauer Außenpolitik-Experte Fjodor
Lukjanow. "Der Kalte Krieg ist jetzt für lange Zeit zurückgekehrt." Natürlich hatte sich diese Rückkehr zur offenen Konfrontation und Feindschaft schon lange angedeutet, schon seit 1999
mit Jewgeni Primakows symbolträchtiger "Kehrtwende über dem Atlantik" nach dem Nato-Angriff auf Jugoslawien und dem schleichenden Tod der Demokratie in Russland im neuen
Jahrtausend. Aber nun scheint die Entwicklung unumkehrbar. Und genau das unterscheidet die jetzige Krise von den vorangehenden Krisen der
vergangenen beiden Jahrzehnte.
Das ist eine unermessliche Tragödie, es ist - nebenbei bemerkt - auch meine persönliche Tragödie, die Tragödie meiner Kinder. Der Wunsch nach guten, freundschaftlichen Beziehungen zwischen
Russland und dem Westen war nämlich - anders als von manchen unterstellt - nie eine Marotte von verblendeten Altlinken und "Putin-Verstehern" oder prowestlich-dekadenten
"Liberasten". Es war immer eine Notwendigkeit für Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen, die sich aus familiären oder privaten Gründen in beiden Teilen des erneut gespaltenen
Kontinents zu Hause fühlten. Die Ignoranz von Politikern und Propagandisten in Ost und West gegenüber diesen Menschen macht wütend.
Russland ist nicht Putin. Für diese Idee stand der Rhein-Wolga-Kanal von Anfang an. Man kann sie in diesem Tagen nicht oft genug wiederholen. Russland bleibt ein großartiges Land mit vielen Millionen wundervoller Menschen, in dem ich die Liebe meines Lebens fand, in dem meine Kinder zur Welt kamen und in dem ich trotz mancher Widrigkeiten des Alltags gerne viele Jahre meines Lebens verbracht habe. Was bedeutet das nun für diesen Blog?
Entweder wird der Rhein-Wolga-Kanal nun doch ein Stück weit politischer, als das anfangs geplant war. Oder vielleicht endet er auch so sang- und klanglos wie die kurze Phase, in
der ein geeintes Europa denkbar schien, das Westen und Osten gleichermaßen umfasst und das sich gemeinsam den Herausforderungen der Zukunft widmet. Denn das Geschehen auf unserem Kontinent ist so deprimierend, dass man eigentlich gar nichts mehr schreiben will. Nicht über die beispiellose Aggressivität
der Kreml-Führung, nicht über die in Trümmern liegende Entspannungspolitik, nicht über die Hybris, mit der moralisch vermeintlich überlegene Politiker in den Hauptstädten des Westens vor die
Mikrophone treten, nicht über die Ukrainer, denen man das Blaue vom Himmel versprach und die nun womöglich enden wie die Kurden im Nahen Osten. Nur eins ist sicher: Х*й войне!
(Aufgeschrieben am 25.2.2022)