"In Moskau führen sie jeden Ausländer zu einer großen Kanone und einer großen Glocke - zu einer Kanone, die nicht schießen kann, und einer Glocke, die auseinander fiel, ehe sie geläutet hat."
Pjotr Tschaadajew (1794-1856), russischer Philosoph und Publizist
Russland ist ein großartiges, in Westeuropa total unterschätztes Reiseziel. Dass es im größten Land der Welt auch jede Menge Orte gibt, die man nicht unbedingt gesehen haben muss, versteht sich von selbst. Manche sind hoffnungslos überlaufen, andere unglaublich hässlich oder sehr langweilig. Eine Hitliste der interessantesten und schönsten russischen Städte und Regionen haben wir bereits zusammengestellt.
Damit auf seiner Russland-Reise möglichst niemand falsch abbiegt, folgt hier nun eine Zusammenstellung unserer größten Enttäuschungen der zurückliegenden Jahre. Nicht, dass uns später jemand vorwirft, wir hätten nicht gewarnt...
Von einem Preußen-König als Geschenk nach Russland gelangt, von den Nazis geraubt und verloren, mit maßgeblicher Hilfe aus Deutschland wiederhergestellt - das legendäre Bernsteinzimmer im Katharinenpalast von Zarskoje Selo ist ein grandioses Kunstwerk, und Spiegelbild der deutsch-russischen Beziehungen. Seit 2003 ist die originalgetreue Rekonstruktion des "achten Weltwunders" wieder in all ihrer Pracht zu bestaunen. Klingt spannend? Das finden Hunderttausende Menschen aus aller Welt auch. Wer den Palast von innen besichtigen möchte, muss sich auf lange Wartezeiten einstellen. Im Bernsteinzimmer selbst sorgen viele Aufpasser dann dafür, dass niemand länger als ein paar Sekunden dort stehenbleibt oder gar Fotos macht. Wer sich für die spektakulären Wandverkleidungen aus Bernstein interessiert, kauft sich am besten einen Bildband und nutzt ansonsten die Zeit für einen Bummel durch den schönen Schlosspark.
In Krasnaja Poljana fanden 2014 die alpinen Ski-Wettbewerbe der Winterolympiade statt. Zu diesem Ziel wurde das einst etwas verschlafene Wintersportzentrum mit aller Gewalt aufgemöbelt. Für die Sotschi-Olympiade wurden eine Bahnlinie, eine Schnellstraße und jede Menge neuer Skilifte in die Landschaft geknallt. Ganzer Stolz der Verantwortlichen ist der aus dem Nichts entstandene Skisport-Komplex Rosa Chutor mit seinen schicken Hotels, Apartment-Blöcken und Boutiken, die sich ein enges Tal entlangziehen. Das sieht alles sehr ordentlich und teuer aus, aber dieser seelenlose Ort könnte genauso auch in jedem anderen Gebirge der Welt stehen. Der russische Kaukasus ist eine faszinierende Region, aber Krasnaja Poljana muss man wirklich nicht besucht haben - und an den schönsten Orten fand Gott sei Dank keine Olympiade statt.
Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist ein großes Erlebnis. Manche Ausländer, die zum ersten Mal auf der Strecke unterwegs sind, fiebern besonders dem Abschnitt entgegen, wenn der Zug durch das Ural-Gebirge fährt und die Grenze von Europa und Asien überquert. Schon so mancher Transsib-Reisende hat dabei viele Stunden lang aus dem Fenster geblickt, ohne irgendwelche Berge zu erkennen. Tatsächlich kann auf den Haupt-Bahntrassen zwischen Jekaterinburg und Perm von einem Ural-Gebirge keine Rede sein, allenfalls von einigen sanften Hügelchen. Auf der Bahnstrecke von Kasan nach Jekaterinburg ist es genauso, hier markiert nicht einmal ein Obelisk die Grenze der Kontinente. Wer hier auf großer Transsib-Fahrt hier entlang kommt, kann die Reise getrost so planen, dass der Ural in der Nacht passiert wird.
Das Kaspische Meer - immerhin der größte Binnensee der Welt - ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Enttäuschung. Und niemand sollte sich der Illusion hingeben, die Küste könnte ein schönes Ziel für einen Strandurlaub sein. Denn zum einen gilt fast die komplette Küstenlinie vom Wolgadelta bis hinunter nach Dagestan als Grenzzone. Ausländer dürfen sich dort offiziell ohne Sondererlaubnis gar nicht aufhalten. An den wenigen zugänglichen Strandabschnitten mit Badebetrieb lässt die Wasserqualität sehr zu wünschen übrig. Dass wir bei einem Besuch in der grandiosen Stadt Derbent auch einen Abstecher zum Meer machten, haben wir später sehr bereut, denn der üble Abwasser-Geruch steckte uns noch Stunden in der Nase. Immerhin hatten wir den kompletten Stadtstrand für uns allein.
Über 1.000 Jahre alt ist die altrussische Stadt Brjansk, die etwa auf halber Strecke zwischen Moskau und der ukrainischen Hauptstadt Kiew liegt. Wer glaubt, hier wäre ein guter Ort für einen Zwischenstopp, irrt sich gewaltig. Denn in Brjansk erinnert so gut wie nichts an seine lange Vergangenheit. Kein russisches Provinzzentrum, das ich kenne, ist vergleichbar ungemütlich und trist. Schuld daran sind nicht zuletzt die Deutschen: Die Region hat während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion enorm gelitten, als die Wälder rings um Brjansk ein Zentrum der Partisanenbewegung waren. Später war das Gebiet besonders stark von der Katastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl betroffen. Das Denkmal für die Widerstandskämpfer auf einem kahlen Platz im Stadtzentrum ist der einzige Ort in der düster wirkenden Industriestadt, der ein wenig Eindruck auf mich gemacht hat.
Aber wer weiß, wie unser Urteil ausgefallen wäre, wenn beim Besuch in Brjansk die Sonne geschienen und es trübe gewesen wäre, als wir Jahre später einmal nach Tscheljabinsk kamen. Auch die als Panzerschmiede bekannte Millionenstadt im südöstlichen Uralgebiet ist kein Ort, den man als Reisender gesehen haben müsste. Hierher zu kommen lohnt sich nur, wenn man auf dem Weg in die Naturreservate und Nationalparks der südlichen Uralregion ist. Ansonsten gilt: Fahren Sie schnell weiter, es gibt nichts zu sehen.
Für eine Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern hat Russlands Hauptstadt Moskau keinen besonders großen Zoo. Das Gelände am Rand des Stadtzentrums ist dennoch extrem beliebt bei den Einwohnern der Metropole. Und genau das ist das Problem - insbesondere an Wochenenden. Dann wird es hier so voll, dass man vor lauter Menschen kaum eine Chance hat, Blicke auf Tiere zu erhaschen. Alle Volieren und Käfige sind dann umringt von Menschentrauben. Zumal die Stadt Wert auf äußerst soziale EIntrittspreise legt: Kinder unter 18 und Renter kommen kostenlos auf das Gelände. In den Wintermonaten ist zwar deutlich weniger los, aber dafür sind viele Zoo-Bewohner nicht an die Moskauer Temperaturen angepasst und können sich dann nicht im Freien aufhalten - wenn sich nicht gleich ganz in Winterschlaf fallen.
Die Betreiber bewerben den Aquapark "Riviera" in Tatarstans Hauptstadt Kasan als eines der größten Spaßbäder der Welt. Da wollen unzählige Russen und Tataren natürlich mitreden können. Die Besucherströme im Moskauer Zoo sind nichts im Vergleich zu den Zuständen dort. Den Nummernschildern auf dem riesigen Parkplatz nach zu schließen, kommen die Besucher für einen Schwimmbad-Tag oft mehrere hundert Kilometer weit angefahren. Bei unserem Besuch im Sommer 2016 war es so voll, dass an Schwimmen nicht zu denkenwar, zumal es gar kein Becken gibt, das tief genug dafür wäre. Kinder müssen während des Aufenthalts eine Schwimmweste tragen, egal, ob sie schwimmen können oder nicht. Wer im Sommer in die Region kommt, tut jedenfalls besser daran, sich einen hübschen Badesee zu suchen. Und im Winter wäre sogar russisches Eisbaden noch eine vernünftige Alternative zur "Riviera" an der Wolga.
Wer in den berühmten nordkaukasischen Mineralwasser-Kurorten durch die Boulevards und Parks bummelt, kann die Agenten der vielen Exkursionsbüros kaum übersehen. Absoluter Hit aller Firmen sind Touren zu den sogenannten Honig-Wasserfällen mit einem Stopp am Ring-Berg bei Kislowodsk. Beide Örtlichkeiten müssen einmal wunderbar gewesen sein - so ungefähr zu Lebzeiten von Michail Lermontow. Aber das ist lange vorbei: Der pittoreske ringförmige Felsen ist über und über mit Graffiti beschmiert, der Weg vom Busparkplatz hinauf zur Anhöhe führt durch eine Gasse von Souvenirkiosken. Noch schlimmer hat es die Honig-Wasserfälle erwischt, deren Umgebung mit allerlei hässlichen Gebäuden verschandelt wurde. Besucher der Gegend haben definitiv bessere Ausflugsziele zur Auswahl.
Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, ist einer der wenigen sozialistischen Superstars, der weltweit Anerkennung fand. Entscheidende Jahre seines Lebens verbrachte der spätere Kosmonaut in Orenburg. Hier wurde er von 1955 bis 1957 an der Fliegerschule zum Kampfpiloten ausgebildet, hier lernte er seine Frau Valentina kennen. Angesichts der großen Bedeutung, die Gagarin bis heute für die offiziielle Geschichtsschreibung Russlands spielt, verwundert, wie die Gedenkorte für den Weltraum-Pionier in der Stadt verwahrlosten: In dem kleinen Gagarin-Museum in der einstigen Fliegerschule (und ehemaligen Priesterseminar) hat sich offenbar seit Jahrzehnten nichts mehr verändert - bei unserem Besuch 2017 sollte es gerade auf die Straße gesetzt werden, weil die orthodoxe Kirche die Räumlichkeiten zurückforderte. Und die zum Museum umgewandelte Wohnung der Gagarins war komplett gesperrt - wegen akuter Einsturzgefahr des Gebäudes.