"Der Ural! Stützpfeiler des Landes, sein Bergmann und Schmied."
Alexander Twardowski, sowjetischer Dichter (1910-1971)
Auf über 2.000 Kilometer Länge gelten die Ural-Berge als natürliche Grenze zwischen Europa und Asien. Touristisch ist die Region aus westeuropäischer Sicht bislang ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Zu Sowjetzeiten waren die größten Städte für Ausländer gesperrt, mit dem Ural verband man im Westen Kupferminen, Straflager und riesige Rüstungsfabriken. Tatsächlich gibt es dort einige Dinge mehr zu entdecken.
Die Idee der Reise war, nach einer Woche in Moskau im August 2016 einige der markantesten Sehenswürdigkeiten der Ural-Region mit einem kurzen Aktivurlaub zu verbinden. Dafür hatte ich von Deutschland aus Kontakt zu einem lokalen Reisebüro in der Nähe von Jekaterinburg aufgenommen und eine dreitägige, begleitete Paddeltour gebucht. Außerdem war für den Hinweg ein dreitägiger Zwischenstopp in Russlands autonomer Republik Tatarstan eingeplant.
Von Moskau aus fahren wir zunächst im Nachtzug ins 800 Kilometer östlich gelegene Kasan. Für die Fahrt haben wir einen der günstigeren Züge (Nr. 90) gewählt, dessen Weg noch viel weiter nach Osten bis ins kasachische Petropawlowsk führt. Der Schlafwagen ist nicht mehr ganz modern, aber sauber und alles in allem recht gemütlich.
Die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan mochte ich schon immer. Mit dem Unesco-Welterbe-Kreml, den Pracht-Boulevards und einem Hauch
Orient ist Kasan eines der interessantesten Reiseziele in Russland überhaupt, wie ich
finde. Wahrzeichen sind die neue Kul-Scharif-Moschee und der schiefe Sjujumbeki-Turm. Beide Bauten befinden sich im
Kreml - dessen weiße Mauern auf einem Hügel die Innenstadt überragen.
Prinzessin Sjujumbeki, heißt es, habe sich einst von der Spitze herabgestürzt, weil sie Iwan den Schrecklichen nicht heiraten wollte. Ganz in der Nähe kann das Zentrum mit zahlreichen
historischen Straßenzügen aus der Zarenzeit aufwarten, die so auch in jede europäischen Metropole passen würden.
Die Bevölkerung besteht seit eh und je etwa zur Hälfte aus muslimischen Tataren und Russen. Ernste Konflikte blieben aus. Russlands Tataren sind eine selbstbewusste,
aber keine besonders fromme Minderheit. An ihrer eigenen Küche hielten sie jedoch immer fest: Die Riesen-Pelmeni "Manty" und dreieckige "Etsch-Potschmak"-Piroggen stehen auf jeder Kasaner
Speisekarte.
Riesenglück haben wir mit unserem vor Reisebeginn gebuchten Hotel "Kauschtschi" (Webseite nur Russisch), einem wiederaufgebauten historischen Holzhaus. Es liegt in einer Gasse hinter dem Wildschweinsee, der früher die Trennlinie zwischen christlicher und muslimischer Stadthälfte bildete, und gehörte einst einem reichen tatarischen Schuhmacher. Weniger glücklich finden wir im Nachhinein die Entscheidung, vor der fast erdrückenden Hitze in den angeblich größten Aquapark Europas zu flüchten. Das riesige Freizeitbad ist nämlich definitv auch das vollste der Welt. Den Nummernschildern auf dem Parkplatz nach zu schließen kommen die Badegäste teilweise aus 400 Kilometer Entfernung. Teuer ist der Eintritt auch, dafür gibt es nicht einmal ein einziges Becken, in dem man normal schwimmen kann.
Überall in Kasan gibt es Exkursionsbüros, die Ausflüge ins Umland der Tataren-Hauptstadt anbieten. Wir entscheiden un für einen Ganztagsausflug zu zwei Zielen, die ohne eigenes Auto ansonsten nur schwierig zu erreichen sind: Die Insel Swijaschsk und das Kloster Raifa. Erster Halt der von einer resoluten Tatarin angeführten Busgruppe ist jedoch der skurrile "Tempel aller Religionen".
Im Winter 2004 hatte ich den inzwischen verstorbenen Initiator des irren Baus, den Künstler und Wunderheiler Ildar Chanow, für eine Reportage noch selbst vor Ort getroffen.
Weiter westlich liegt die Festungsinsel Swijaschsk mit ihren Klöstern. Iwan der Schreckliche hatte von hier den Angriff auf das Tatarenreich gestartet. Heute kommen Touristen - und Gläubige, die mit den Mönchen ihre Seelennöte besprechen.
Danach geht es zu dem mitten im Wald gelegenen Raifa-Kloster, das wegen seiner wundertätigen Marien-Ikone Pilger von weither anzieht. Die Benimmregeln vor Ort sind streng, aber wenigstens gibt es für alle Frauen mit Hosen schicke rote Leihröcke. Beide Orte haben in der Sowjetzeit eine dramatische Geschichte durchlitten: Auf der Festungsinsel waren ein Krankenhaus und ein Gefängnis für Gegner der Sowjetregierung eingerichtet worden, das abgelegene Raifa wurde als Besserungsanstalt für kriminelle Jugendliche umfunktioniert. Die Kirchen und Klöster an beiden Orten verrotteten über Jahrzehnte hinweg - für Touristen, erst Recht für Ausländer waren sie lange unzugänglich. Seit 1991 ist an beiden Orten enorm viel geschehen.
Wir reisen über Nacht in einem völlig überhitzten Nachtzug älterer Bauart weiter ostwärts. Ziel ist Jekaterinburg, zwei Zeitzonen östlich von Moskau, ehemals Swerdlowsk, Wirtschaftszentrum der Ural-Region, Heimat von Boris Jelzin, Schauplatz des Mordes am letzten Zaren. Der legendäre Ural wirkt vor dem Zugfenster unscheinbar. Die Anhöhen erinnern eher an rheinhessische Hügel als an ein echtes Gebirge. Und auch die Grenze zwischen Europa und
Asien passieren wir unbemerkt.
An der Station Druschinino, dem letzten Halt vor Jekaterinburg, wird deutlich, welche Bedeutung die Rohstoffe Sibiriens und des Urals für Russland haben. Während unser Schlafwagenzug auf das
grüne Ausfahrtsignal wartet, parken auf den Nebengleisen fünf mit Kohle beladene Züge, die Richtung Westen unterwegs sind.
Jekaterinburg hatte in den wilden 1990er-Jahren einen zweifelhaften Ruf. Damals war Jekaterinburg Schauplatz erbitterter Mafia-Fehden. Inzwischen bieten Reisebüros Stadtrundgänge auf den Spuren der Gangster an (Friedhofsbesuch inclusive). Auch gibt es hier die höchsten Wolkenkratzer Russlands außerhalb Moskaus zu bestaunen. Ein skurriler Blickfang ist auch der unfertige Fernsehturm von Jekaterinburg - die vermutlich höchste Bauruine der Welt.
Zufällig kommen wir beim Bummel durch die Stadt an einer ehemaligen Fabrikhalle vorbei, die zum Museum für moderne Kunst umfunktioniert wurde. Gerade läuft dort eine Ausstellung, in der sich regionale Künstler mit ihrer Heimat befassen. Ansonsten dreht sich in der Stadt viel um die Familie des letzten Zaren Nikolaus II. Am Ort seiner Hinrichtung steht heute eine Kathedrale. In Ganina Jama, dem Wald, wo die Leichen
verbrannt wurden, ein Kloster. Das Gelände ist wirklich hübsch, doch der kitschig-hurrapatriotische Kult um die heilig gesprochenen Zarenmärtyrer wirkt befremdlich. Wer Russisch versteht und die Texte der Ausstellungen liest, dem sträuben sich unwillkürlich die Nackenhaare.
Um einmal richtig Abstand von großen Städten zu bekommen, hatten wir bereits von Deutschland aus über das örtliche Reisebüro „Aktiv Ural" (Webseite nur Russisch) in Perwouralsk eine
dreitägige Paddeltour gebucht. Etwa hundert Kilometer von Jekaterinburg entfernt wollen wir mit einer Gruppe auf Katamaranen die Tschussowaja hinunter rudern – für uns eine bislang völlig ungewohnte Art, Ferien zu machen.
Solcher Aktivurlaub ist ziemlich populär in Russland. Viele Menschen ziehen einfach auf eigene Faust los in die Wildnis. Aber inzwischen lassen sich eben auch Touren buchen, bei denen die
Teilnehmer außer ihrer Kleidung, Badesachen und Mückenspray nichts mitbringen müssen. Nicht nur die Boote werden vom Veranstalter gestellt, sondern auch Verpflegung, Zelte, sogar Schlafsäcke
und Iso-Matten.
Die Idee war zugegeben etwas riskant, aber wir haben dreifach Glück: Die sieben Mitreisenden und unserer gemütlicher Bootsführer Sergej sind alle sehr nett, außerdem bleibt es trocken und sonnig, und es gibt gerade keine Zecken. Auf unserer 50-Kilometer-Strecke laden viele hübsche Wiesen oder Felsen zum Pausieren ein. Das Wasser ist fast nirgendwo tief, gelegentlich läuft unser aufblasbarer Katamaran auf Grund.
Die Tschussowaja fließt quer durch den Ural von Asien nach Europa und ist seit Sowjetzeiten ein Lieblingsziel für russische Kanuten und Floßfahrer. Entsprechend viel Verkehr herrscht hier in den Sommermonaten. Im Juli wird es auf manchmal so voll, dass sich gelegentlich sogar schon Staus bilden. Ganz so schlimm haben wir es nicht erlebt.Vor allem am ersten Tag begegnen wir aber regelmäßig anderen, teils alkoholbedingt kaum noch manövrierfähigen Gruppen. Einige der beliebtesten wilden Campingplätze sind leider auch recht vermüllt.
Kümmern müssen wir uns um fast nichts. Der braungebrannte Sergej, Teddybär-Typ, kennt alle Stromschnellen und Untiefen, er kocht, und er heizt sogar ein Banja-Zelt an. Abends treffen wir seinen Kollegen Iwan. Der spielt uns am Lagerfeuer mit dem Knopfakkordeon melancholische Lieder und übernimmt morgens den Weckdienst.
Am zweiten und dritten Tag begegnen wir schon deutlich weniger Touristen. Gelegentlich rudern wir an kleinen, aus der Zeit gefallenen Dörfern vorbei, immer wieder bauen sich an einem der Ufer imposante Felsen auf. An größeren Tieren sehen wir lediglich Reiher und Greifvögel, aber angeblich gibt es hier auch Elche und Wölfe.
Nach etlichen Badepausen und Ermahnungen seitens des Kapitäns, die Gruppe rudere zu langsam, erreichen wir am dritten Tag planmäßig das Dorf Staroutkinsk. Einer der
Mitreisenden, Kinderarzt Andrej aus Tscheljabinsk, war hier aufgewachsen und wollte auf romantische Weise noch einmal zum Ort seiner Kindheit zurückkehren.
Nun stellt sich heraus, dass der Kleinbus, der uns abholen sollte, kaputt ist. Während wir in der Hitze auf das Ersatzfahrzeug warten, bleibt etwas Zeit, sich im Ort umzusehen, den
Dorfladen zu plündern und über die riesigen Feuerholz-Vorräte in den Vorgärten zu staunen. Moskau fühlt sich gerade Galaxien weit entfernt an.
Von Jekaterinburg aus reisen wir nun wieder zurück nach Westen. Obwohl wir nur bis zur nächsten Haltestelle an Bord bleiben, ist ein Abendessen aus dem Speisewagen im Fahrpreis
inbegriffen - was erklärt, warum das Ticket fast so viel kostete, wie die deutlich weitere Strecke im letzten Zug. Mit der Plastikbox-Verpflegung der RZD haben wir uns nicht richtig
anfreunden können. Den "vegetarischen Plow" würden jedenfalls kein zweites Mal wählen.
Für zwei weitere Nächte mieten wir uns in einem Hostel (Webseite nur Russisch) in Kungur ein, einer der ältesten Städte der Uralregion. Die dortigen Teehändler zählten einst zu den reichsten
Geschäftsleuten des Zarenreiches. Wegen der anhaltenden Hitze ist uns aber eher nach Baden als nach Besichtigungen zumute. Praktischerweise liegt ein Badestrand mitten im Stadtzentrum.
Die zentrale Attraktion von Kungur ist wiederum eine gute Adresse für heiße Tage. In den Karsthügeln am Stadtrand befindet sich eine der größten Eishöhlen Europas. Wir verzichten auf die Lasershow und wählen eine gewöhnliche Rundtour, die anderthalb Stunden durch frostige Grotten und an unterirdischen Seen entlang führt.
Nachmittags vermittelt uns unsere Herbergsmutter Olga einen Ausflug mit einem Gästeführer und dessen Enkel. Wir fahren wir zum Belogorski-Kloster, dem „Athos des Ural“. Die riesige Hauptkirche des Klosters steht auf dem Gipfel des Weißen Berges, der höchsten Erhebung im Umkreis von über 50 Kilometern.
Schwer zu sagen, was faszinierender ist: die gewaltige Kathedrale im Nirgendwo oder der Fernblick in alle vier Richtungen, ohne, dass irgendwo auch nur ein einziges Haus zu sehen wäre. Einst gegründet, um die in den Ural geflohenen Altgläubigen zu bekehren, war die Anlage zu Sowjetzeiten eine psychiatrische Klinik geworden. Kleiner Wermutstropfen ist ein Klosterdiener, der sich über das T-Shirt unseres Sohnes beschwert. Darauf prangt ein Drache - ein Symbol Satans, findet der Mann.
Nach der zweiten Nacht in Olgas Hostel fahren wir im Vorortzug nach Perm. Die östlichste Millionenstadt Europas ist selbst
bei schönem Wetter eher trist. Wie es hier erst an einem trüben November-Tag aussieht, wollen wir lieber gar nicht wissen. Ebenso wie in Jekaterinburg hat die Stadt alle Attraktionen durch eine
auf den Asphalt gemalte grüne Linie miteinander verbunden (in Jekaterinburg war die Farbe rot). Aber selbst diese nette Orientierungshilfe wird Perm nicht zum Mekka des internationalen
Reiseverkehrs machen.
Wir steuern die recht interessante Gemäldegalerie an. Berühmt ist das in der entweihten Kathedrale der Stadt untergebrachte Museum für seine Sammlung hölzerner
Heiligenfiguren. Für russisch-orthodoxe Kirchen sind solche Skulpturen sehr ungewöhnlich, im Ural sollten sie einst den heidnischen Völkern der Komi und Mansen den Übertritt zum
Christentum erleichtern. Unweit der Galerie stoßen wir auf die hübsche Zentralmoschee von Perm.
Die Bewohner von Perm wurden einst in Russland als „Salzohren“ verspottet. Grund genug für die Stadt, das wohl weltweit einzige „Salzohren-Denkmal“ aufzustellen. Außerdem gib es noch Denkmäler für das Wappentier der Region, den Bären, und für allerlei Volkshelden. Nach einem Spaziergang an der Uferpromenade der breiten Kama endet unser Besuch, ein längerer Aufenthalt lohnt hier nach unserem Eindruck eher nicht. Knapp 24 Stunden dauert die Rückfahrt nach Moskau, wir sind in einem Zug unterwegs, der schon vor zweieinhalb Tage aus der westsibirischen Republik Chakassien gestartet war - auf die Minute pünktlich an allen Zwischenstopps und am Ziel, dem Jaroslawler Bahnhof von Moskau.
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